Die Jugendbewegung wollte um 1900 zurück zur Natur

Besonders deutlich wird das Zusammenspiel von Aufbruch und Orientierung am Überkommenen um 1900 in der Jugendbewegung. Ulrich Herbert erklärt: „Sie war zunächst ein Teil der wesentlich breiteren Bewegung der Lebensreformer, die danach strebten, in der als einengend und bedrückend empfundenen Welt des Wilhelminismus neue, eigene Wege zu finden, nach Freiheit, Natur und Ursprünglichkeit zu suchen und den Zwängen der Konvention zu entkommen.“ Diese Bestrebungen wirkten sich sowohl auf die Bereiche des Wohnungs- und Städtebaus sowie der Erziehung oder der Sexualpolitik aus. Die Jugendbewegung war jedoch wesentlich breiter, in den Zielsetzungen auch diffuser als die Lebensreformer. Vor allem aber hatten sie besonders viel Einfluss – und das über Jahrzehnte hinweg. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Die Jugendbewegung war unzufrieden mit der Massengesellschaft

In ihren Anfängen ging die Jugendbewegung auf Bestrebungen großstädtischer Gymnasiasten zurück, sich von den Bindungen an Großstadt, Massengesellschaft und Industrialismus zu lösen. Die Elternhäuser und die Paukschulen wurden als eng und autoritär empfunden. Sie wollten mit Gleichgesinnten zur Natur, zum ungebundenen Leben und zur Kameradschaft zurückfinden. Kennzeichen dieser rasch anwachsenden Bewegung waren unter anderem: Wanderungen durch vermeintlich ursprüngliche Natur, Schlafen am Lagerfeuer unter freiem Himmel, Verklärung volkstümlicher Bräuche und Begeisterung für ein erträumtes, romantisches Mittelalter.

Die Jugendbewegung fand im Jahr 1913 ihren Höhepunkt, als sich Tausende von Jugendbewegten auf dem „Hohen Meißner“ versammelten und in ihrer pathetischen Inszenierung dazu bekannten, nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten. Mochten sich solche Bestrebungen auch oftmals auf das Wochenende oder sonntägliche Ausflüge in den Stadtwald beschränken und bald wunderliche Formen annehmen, so drückte diese zivilisationskritische Jugendbewegung doch ebenso ein verbreitete Unzufriedenheit mit der modernen Wachstums- und Massengesellschaft des Kaiserreiches aus.

Im Mittelpunkt der Bewegung stand das Ideal der Jugend

In der Jugendbewegung herrschte eine tiefe Sehnsucht nach Orientierung, Einfachheit und Unmittelbarkeit. Ulrich Herbert ergänzt: „Ähnliches galt für die vielfältig mit der Jugendbewegung verbundenen Bestrebungen zivilisationsmüder Stadtflüchtlinge, die einen Kult von Sonne, Licht und Leben, von Gesundheit und Natur frönten und bald unterschiedlichste Nachahmer fanden.“ Im Mittelpunkt dieser in sich selbst sehr vielfältigen Bewegung aber stand das Ideal der „Jugend“ selbst. Das Bekenntnis zur eigenen Jugendlichkeit galt als der eigentliche Befreiungsakt.

Die Jugendbewegung rebellierte unter anderem dagegen, dass sich die Erwachsenen, in einer Epoche der Veränderung, am Alten und Vertrauten orientierten und suchte nach neuen, zeitgemäßen Leitbildern. Ulrich Herbert erläutert: „Sie fand sie paradoxerweise in noch älteren und als ursprünglicher empfundenen Mythen des Mittelalters, der Romantik und einer archaischen Naturmystik.“ So drückte sich in der Jugendbewegung beides aus: die Verunsicherung durch die rapide Dynamik der Veränderungen der Jahrhundertwende und zugleich die Ablehnung der gängigen Formen, in welchen auf diese Wandlungen reagiert wurde.

Von Hans Klumbies