Alle Kulturen besitzen ihre Gründungsmythen

Alle Kulturen beziehen sich sowohl in ihrer Entstehungsphase als auch in ihrer Weiterentwicklung auf ihre Gründungsmythen. Beginnt die Erinnerung oder die Bindung daran zu verblassen, verliert der große Organismus einer Kultur langsam an Energie und Charakter. Oswald Spengler ist der Autor des kulturphilosophischen Werks „Der Untergang des Abendlandes“. Er bezeichnete den Prozess, in dem die lebendigen Geister eines Volkes erlöschen, als den Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Erstere verkörpert ein vielversprechendes und kreatives Anfangsstadium. Letztere hingegen Endstadium und Verfall der gesamten Kultur. Isabella Guanzini weiß: „Um eine Kultur am Lebne zu erhalten, bedarf es immer wieder des Rückgriffs auf die eigenen Gründungsmythen.“ Denn jede Renaissance ist stets auch Erinnerung an die eigenen Ursprünge. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

Die „Aeneis“ ist die epische Vergangenheit Europas

Diese sind wie Speicherbecken von fantastischen Vorstellungswelten und vitalen Bedeutungen. Aus ihnen lassen sich auch in Zeiten der Dürre symbolische Stärke und Visionen für die Zukunft schöpfen. Vergils „Aeneis“ ist für Isabella Guardini eine der großen Erzählungen der europäischen Kultur, auf die man in schwierigen Phasen zurückgreifen kann. Sie ist die epische Vergangenheit des Abendlandes. Dessen genetisches Erbe trägt zur Immunisierung gegen jeglichen Verlust von Größe die Spuren der griechischen Götter und Helden in sich, nämlich „pietas“ und „humanitas“.

Das, was heute von ihren „Unternehmungen“ geblieben ist, hat jedoch die legendäre Aura ihrer Gesten und Worte verloren. Bei Unternehmen denkt man heute nur an Kapitalinvestitionen mit dem Ziel, Güter zu produzieren, um daraus Profit zu schlagen. Das Unternehmen wird funktionaler und lukrativer. Man entmythologisiert und säkularisiert es durch neue Riten, Mythen und neue Helden einer globalisierten Welt. Andere epische Charaktere hingegen sind in der spätkapitalistischen Welt der totalen Mobilität heute erneut wieder lesbar geworden.

Virgil lebte im ersten globalen Reich der Welt

Isabella Guanzini betrachtet die „Aeneis“: „Vergil lebte im ersten globalen Reich der Welt mit Rom an der Spitze, unter der Herrschaft des Kaisers Augustus. Aeneas als Sohn einer Göttin und eines trojanischen Herrschers ist der Held der „Aeneis“, das Vergil zu Ehren des Kaisers verfasst hatte.“ Aeneas ist ein „Flüchtling durch Schicksalsspruch“, ein Fremder, der alles verloren hat. Er lässt eine Stadt hinter sich, die durch die Waffen der Griechen zerstört wurde, und erblickt Italien das erste Mal vom Meer aus.

Italien ist für ihn wahrhaftig eine letzte Zuflucht, die er langsam am Horizont auftauchen sieht, als erhöbe sie sich aus der Tiefe. Er ist ein Flüchtling nach dem Willen der Götter, der für Aeneas allerdings oft nur schwer begreiflich ist. Er ist ein Held auf der Flucht aus einer brennenden Stadt und Anführer einer kleine Gruppe trojanischer Gefährten. Sie sind auf der Suche nach einer neuen Zukunft. Die Wechselfälle seines Schicksals sind Symbol für eine Existenz, die sich auf den Weg gemacht hat und schwierigen Etappen folgen muss wie in einem langwierigen Prozess kollektiven Werdens. Quelle: „Zärtlichkeit“ von Isabella Guanzini

Von Hans Klumbies