Von vielen Theoretikern der Freiheit unterschätzt, spielen im Prozess der Moderne die Kunst und bei ihr das Prinzip der Freiheit eine herausragende Rolle. Ein Grund für das Unterschätzen liegt für Otfried Höffe auf der Hand: „Die wenigsten Freiheitstheoretiker verfügen über hinreichende Sachkenntnis für die so vielfältige wie vielseitige Kunst, reicht diese doch von der Musik über die bildenden Künste samt Architektur bis zur Dichtung, dem Theater und dem Film.“ Nicht minder vielfältig sind die freiheitstheoretischen Aspekte. Wie die frühe, später die klassische Philosophie Europas spricht auch die älteste europäische Literatur griechisch. Die ältesten Dichtungen des europäischen Kulturraums werden einem gewissen Homer zugesprochen, der die Epen „Ilias“ und „Odyssee“ schuf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Bei Platon findet man die erste Dichterkritik
Genau auf sie bezieht sich das erste Modell der europäischen Dichtungsphilosophie, die ihren Gegenstand, die Dichter und die Dichtung, an außerdichterische Vorgaben bindet. Sie finden sich bei Platon in seinem Hauptwerk, der „Politeia“. Die erste Dichterkritik steht im Zusammenhang mit einer mehrstufigen Polisgenese. In der mittleren Polisstufe herrscht die „pleonexia“, ein grenzenloses Immer-mehr-wollen. Infolgedessen braucht es Wächter, im Sinne von innerer Polizei, vor allem jedoch äußere Sicherheitskräfte, das Militär.
Im Rahmen der Erziehung dieser Wächter kritisiert nun Platon die von Homer und Hesiod überlieferten, als unmoralisch anzusehenden, polytheistischen Mythen. Diese Kritik erfolgt von einem konstruktiven Standpunkt, nämlich von einer „wahren“ ebenso monotheistischen wie moralischen Theologie aus. Der Modellcharakter von Platons Dichtungskritik liegt in dieser Verpflichtung auf Wahrheit. Platon kritisiert Homer und Hesiod nicht etwa wegen eines Mangels an dichterischen Qualitäten, etwa wegen Schwächen der Komposition oder der Sprache.
Homers Epen waren ein wesentlicher Teil der Erziehung
Ganz im Gegenteil, Platon verehrt die beiden Dichter. Seiner Kritik liegt vielmehr eine kompromisslose Verpflichtung auf die Wahrheit zugrunde. Zudem steht Platons Kritik in dem Zusammenhang, der eine rein literarische Beurteilung geradezu verbietet, dem Kontext der Pädagogik. Denn vor allem Homers Epen waren damals nicht einfachhin Literatur, sondern ein wesentlicher Teil der Erziehung. Aus diesem Grund, wegen ihrer pädagogischen Bedeutung, will Platon verbieten, dass man die „Wächter“ zur Führungselite zählt.
Platons zweite Dichterkritik steht im Zusammenhang einer Erkenntnistheorie und Ontologie. Dabei bleibt das Prinzip Wahrheit gültig. Gemäß seinem Kriterium für den Rationalitätsgewinn, der Arbeitsteilung und Spezialisierung, fragt Platon nicht, ob Homer wegen der vielen behandelten Themenbereiche ein Generalist sei, der sich auf vieles verstehe; er fragt lediglich nach Homers spezieller Expertise: Nach dem Vorbild des Arztes, der Kranke zu heilen vermöge, müsse Homer hinsichtlich seiner Themen, über die Fähigkeit zu deren Verbesserung verfügen. Das ist nach Auskunft Platons aber nicht der Fall. Quelle: „Kritik der Freiheit“ von Otfried Höffe
Von Hans Klumbies