Fast alle Menschen denken eher in Geschichten als in Fakten, Zahlen oder Gleichungen. Und je einfacher die Geschichte ist, desto besser. Yuval Noah Harari erklärt: „Jede Person, jede Gruppe und jede Nation hat ihre eigenen Erzählungen und Mythen.“ Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts formulierten die globalen Eliten in New York, Berlin und Moskau drei große Erzählungen. Diese nahmen für sich in Anspruch, die gesamte Vergangenheit zu erklären und die Zukunft der ganzen Welt vorherzusagen. Dabei handelt es sich um die faschistische, die kommunistische und die liberale Erzählung. Der Zweite Weltkrieg machte dem faschistischem Narrativ den Garaus, und von Ende der 1940er Jahre bis Ende der 1980er Jahre wurde die Welt zum Schlachtfeld zwischen nur noch zwei Erzählungen: Kommunismus und Liberalismus. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.
Die liberale Erzählung feiert den Wert der Freiheit
Dann fiel die kommunistische Erzählung in sich zusammen, und übrig blieb das liberale Narrativ. Nämlich als bestimmender Leitfaden für die menschliche Vergangenheit und als unverzichtbares Handbuch für die Zukunft der Welt. Oder zumindest glaubte die liberale Elite das. Yuval Noah Harari erläutert: „Die liberale Erzählung feiert den Wert und die Macht der Freiheit. Sie behauptet, die Menschheit habe seit Jahrtausenden unter repressiven Regimen gelebt. Diese gewährten den Menschen kaum politische Rechte, ökonomische Chancen oder persönliche Freiheiten und schränkten die die Bewegungsfreiheit von Individuen, Ideen und Waren hochgradig ein.“
Doch die Menschen kämpften für ihre Freiheit, und Schritt für Schritt gewann diese an Boden. An die Stelle brutaler Diktaturen traten demokratische Regierungen. Das freie Unternehmertum überwand alle ökonomischen Schranken. Die Menschen lernten, selbstständig zu denken und ihrem Herzen zu folgen, statt blind bigotten Priestern und engstirnigen Traditionen zu gehorchen. Offene Straßen, feste Brücken und betriebsame Flughäfen ersetzten Mauern, Gräben und Stacheldraht. Die liberale Erzählung gesteht durchaus zu, dass auf der Welt nicht alles zum Besten steht und dass es noch immer viele Hürden zu überwinden gibt.
In vielen Ländern herrschen noch immer Tyrannen
Denn ein Großteil des Planeten Erde wird immer noch von Tyrannen beherrscht, uns selbst in den freiheitlichsten Ländern leiden viele Bürger unter Armut, Gewalt und Unterdrückung. Aber zumindest weiß man dort, was man tun muss, um diese Probleme zu meistern: den Menschen mehr Freiheit gewähren. Man muss die Menschenrechte schützen, man muss jedem das Wahlrecht zugestehen, freie Märkte etablieren und dafür sorgen, dass Individuen, Ideen und Waren sich überall auf der Welt so problemlos wie möglich bewegen können.
Das liberale Patentrezept lautet: „Wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme nur immer weiter liberalisieren und globalisieren, werden wir Frieden und Wohlstand für alle schaffen.“ In den 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde dieses Narrativ zu einem globalen Mantra. Zahlreiche Regierungen von Brasilien bis Indien übernahmen liberale Rezepte, um sich dem unaufhaltsamen Gang der Geschichte anzuschließen. Diejenigen, die das nicht taten, wirkten wie Fossile aus einer längst vergangenen Zeit. Quelle: „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari
Von Hans Klumbies