Griechische Mythen bestimmen das europäische Weltbild

Der Historiker Paul Veyne zeigte in den 80er Jahren in seinem Buch „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“, dass die griechischen Mythen Geschichten sind, die das europäische Weltbild und die Wahrnehmung der Europäer bestimmen. Dabei handelt es sich auch durchaus um doppelbödige Geschichten. Sie machen laut Jürgen Wertheimer deutlich, wie konstruiert und fragil, wie skrupellos und kreativ die europäische Art ist, Geschichte herzustellen und zu schreiben. Und auch wie virtuos sie damit umzugehen verstehen. Jürgen Wertheimer erläutert: „Einerseits wandeln wir gläubig auf den Spuren der Alten und lesen jedes Gran Wirklichkeit andachtsvoll auf. Zugleich bezweifeln wir jeden Echtheitsanspruch und lösen die Illusionen in der Säure unseres kritischen Verstandes auf.“ Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Alexander der Große erobert den Osten

Kreta war durch seine Überwindung zu einer Art attischer Außengrenze geworden. Es war gleich weit entfernt von Nordafrika wie von der kleinasiatischen Küste. Um 1500 vor Christus bildet sich ein neuer Herrschaftsraum heraus. Dieser sollte die Keimzelle dessen werden, was man jetzt Europa nennt. Das später in Schutt und Asche gelegte Troja gehört ebenso zu dieser Geschichte wie der ewige Kampf gegen die Phöniker und Karthager und vor allem gegen den Erzfeind, die Perser.

Jene mächtigen Perser, die ein Jahrtausend später die Akropolis als Zentrum des werdenden Europa zerstören sollten, weil sie in der erstarkenden Macht aus dem Westen eine Bedrohung sahen. Wiederum hundert Jahre darauf sollte sich diese in Gestalt Alexander des Großen (356 – 323 v. Chr.) personalisieren und konkretisieren. Als selbsternannter neuer Herkules verleiht er dem „griechischen Traum“ innerhalb weniger Jahre durch eine gigantische Osterweiterung eine geradezu irrwitzige Dimension.

Die Grenzen zwischen Orient und Okzident verschwimmen

Sein verwegener Weg im Namen eines hellenischen Weltreichs beginnt in Makedonien, seinerzeit als Hinterhof des attischen Kulturraums verachte. Er führt ihn über den Olymp und weiter, sehr viel weiter bis zum Himalaya. Die Levante, Theben und Kleinasien nimmt Alexander der Große im Handstreich, Persien, Ägypten und Teile Indiens folgen. Das in der Antike hoch angesehene Orakel von Siwa erklärt ihn zum „Sohn des Zeus“. Alexander der Große rächt sich einerseits an den Persern, andererseits unternimmt er erste Versuche, die Grenzen zwischen Orient und Okzident zu verwischen.

Zudem bemüht er sich die Kulturen miteinander zu vermischen – zum Verdruss des griechischen Heeres, das sich nicht mehr hinreichend gewürdigt sieht. Plötzlich will Alexander der Große persisches Hofzeremoniell, integriert persische Soldaten in die Truppe, betet ägyptische Götter an, heiratet orientalische Frauen. Hatte man dafür gekämpft? War man dafür 18.000 Kilometer durch Wüsten und Wälder marschiert? Einerseits die „Ilias“ zu verehren und griechische Philosophen wie Aristoteles im Tross mit sich führen und zugleich das, wofür Griechenland stand, zu verwischen, zu vermischen, zu verraten – konnte das gut gehen? Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies