Über moralische Werte herrscht eine deprimierende Sprachlosigkeit

Viele Menschen hören sich oft so an, als seien ästhetische Urteile rein subjektiv, weshalb sie nicht öffentlich in Frage gestellt werden können. Diese Anschauung hat eine lange Tradition: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, meinten schon die alten Römer. Matthew B. Crawford stellt fest: „Aber in Wirklichkeit denken wir anders. Wer in der Öffentlichkeit ein positives ästhetisches Urteil fällt, geht ein Risiko ein.“ Denn in Wirklichkeit sagt er: „Das hier ist gut.“ In einer 2008 durchgeführten Studie befragten die Soziologen Christian Smith und seine Kollegen von der University of Notre Dame 230 junge Amerikaner zur Bedeutung moralischer Werte für ihre Lebensführung. Sie fanden nichts so Spektakuläres wie moralische Verkommenheit, sondern stießen vielmehr auf deprimierende Sprachlosigkeit. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Thomas Hobbes wollte den öffentlichen Raum von Werten freihalten

David Brooks fasst die Ergebnisse von Christian Smith zusammen: „Viele Befragte sprachen spontan über ihre moralischen Empfindungen, aber sie verknüpften diese Empfindungen kaum mit weitergehenden Überlegungen über ein allgemeingültiges Bezugssystem […].“ Einer der Befragten formulierte es wie folgt: „Ich nehme an, was richtig ist, hängt davon ab, wie ich darüber denke. Aber verschiedene Menschen haben unterschiedliche Empfindungen, so dass ich nicht im Namen anderer Menschen sagen könnte, was richtig und was falsch ist.“

Thomas Hobbes machte als Erster die Privatisierung des moralischen Urteils zu einem politischen Prinzip. Matthew B. Crawford weiß: „Er erklärte nicht nur, man solle starke Werturteile für sich behalten, um den Frieden zu erhalten; er wollte nicht nur den öffentlichen Raum von „Werten“ freihalten, damit sich kein Mensch als Objekt der Missbilligung anderer fühlte.“ Damit machte Thomas Hobbes einen radikalen Vorschlag. Er sagte im Grunde: „Es hängt von meinem Empfinden ab, ob etwas richtig ist.“

Für den Subjektivisten ist jeder automatisch ein Individuum

Für die Subjektivisten erfassen Werturteile nichts. Es gibt keine Eigenschaft der Welt, die solche Urteile wahr oder falsch machen würde, dass sie lediglich ein persönliches Gefühl ausdrücken. Daraus folgt, dass das moralische und ästhetische Urteilsvermögen eines Menschen nicht geschult werden kann. Er kann nicht präziser werden oder sich weiterentwickeln. Er kann sich lediglich wandeln. Zweifellos hat ein Mensch im Alter von 40 Jahren ein anderes Verständnis von Freundschaft als mit 13 Jahren.

Matthew B. Crawford erläutert: „Aber es hat sich nicht nur verändert, sondern vertieft. Und diese Vertiefung, die mit einer bestimmten Biographie verknüpft ist, meinen wir, wenn wir von Individualität sprechen; wir beziehen uns auf etwas, das wir erworben haben.“ Für den Subjektivisten hingegen ist jeder automatisch ein Individuum; jeder hat sein individuelles Bündel von Wertempfindungen. Der Subjektivismus kann mit der Erfahrung einer zunehmenden Klarheit des Urteilsvermögens nichts anfangen, ebenso wenige wie mit der damit zusammenhängenden Vorstellung einer erworbenen Individualität des Urteilsvermögens. Quelle: „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ von Matthew B. Crawford

Von Hans Klumbies