Matthew B. Crawford widmet sich der Wiedergewinnung des Wirklichen

Die sie umgebende Welt flutet die Menschen mit immer mehr und stärkeren Reizen. Es gibt sie, eine Krise der Aufmerksamkeit. Das geistige Leben wird zunehmend durch äußere Einflüsse manipuliert und fragmentiert. Zugleich wird die eigene Selbstverortung beeinträchtigt, denn viele Menschen eigenen sich die Wirklichkeit oft nur mittelbar an – aus zweiter Hand, über die Medien, nach Vorgaben der Wirtschaft oder des Mainstream. Der Philosoph Matthew B. Crawford fordert, dass sich die Menschen wieder einen direkten Zugang zu ihrer Umgebung erschließen müssen. Denn nur im konzentrierten Gesprächen und Auseinandersetzung mit echten Menschen und konkreten Tätigkeiten wird es den Individuen gelingen, eine wahre Individualität zu entwickeln. Dazu ist es erforderlich im Einklang mit der Welt zu handeln und sie nicht nur zu beobachten. Am Beispiel des Handwerks zeigt Matthew B. Crawford, wie wichtig dabei die konkrete Praxis ist. Denn diese hilft den Menschen dabei, sich in der Welt außerhalb ihres Kopfes zu verankern. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Matthew B. Crawford will eine Aufmerksamkeitsethik der Gegenwart entwickeln

Die Ablenkbarkeit vieler Menschen ist ein Hinweis darauf, dass sie die Frage nicht mehr beantworten können, welche Dinge es wert sind, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wissen nicht mehr, was für sie wertvoll ist. Matthew B. Crawford weiß Rat: „Um diese Frage ungehindert beantworten zu können, brauchen wir einen Zufluchtsort, einen Raum für Ernsthaftigkeit.“ Wer die Wertebestimmung verweigert, verfällt in einen Nihilismus und findet sich damit ab, dass alle Unterscheidungen aufgehoben werden und jeglicher Sinn der bloßen „Information“ weicht.

Für Matthew B. Crawford ist offensichtlich, dass weder eine einzelne Disziplin noch eine Denkschule imstande ist, die Krise der Aufmerksamkeit in der Kultur der Gegenwart zu verstehen. Ziel seines Buches ist es, so etwas wie eine Aufmerksamkeitsethik der Moderne zu entwickeln, die auf einer realistischen Einschätzung des Verstandes und einer kritischen Analyse der modernen Kultur beruhen muss. Unter Ethik versteht Matthew B. Crawford eine umfassende Reflexion über das Ethos, das eine Person anstrebt.

Die wenigsten Menschen sind von Natur aus Gelehrte

Zuneigung zur Welt, wie sie ist: Dies könnte das Motto für eine diesseitige Ethik sein. Bei der Begegnung mit anderen Menschen könnte eine Ethik der Aufmerksamkeit laut Matthew B. Crawford sogar erotische Züge tragen. Die Offenheit für überlegene Leistungen kann eine Person auf authentische Art mit anderen Menschen verbinden, ohne dass eine egalitäre Abstraktion erforderlich wäre. Der Mensch möchte als Individuum erkannt und aus denselben Gründen als wertvoll anerkannt werden, die ihn dazu bewegt haben, nach Wert, ja Überlegenheit zu streben, als er sich eine bestimmte herausragende Eigenschaft oder Fähigkeit aneignete.

Den Dingen direkt zu begegnen ist für Matthew B. Crawford wichtiger als die Begegnung mit Repräsentationen der Dinge: „Daher sollten wir die handwerklichen Ausbildung vielleicht nicht als Bildung zweiter Klasse und jene, die eine solche Bildung brauchen, nicht als Menschen zweiter Klasse betrachten.“ Denn die wenigsten Menschen sind von Natur aus Gelehrte, und es scheint sonderbar, dass es zur universellen Bildungsnorm geworden ist, an Tischen zu sitzen und Bücher zu studieren. Dazu kommt, dass der vermittelte Wissensgehalt vom pragmatischen Umfeld abgekoppelt wird, in dem sein Wert sichtbar wird.

Die Wiedergewinnung des Wirklichen
Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung
Matthew B. Crawford
Verlag: Ullstein
Gebundene Ausgabe: 429 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-550-08119-4, 24,00 Euro

Von Hans Klumbies