Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten, und niemand darf zurückbleiben. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben.“ Das es einmal Aufgabe von Schulen gewesen ist, eine – im Idealfall an den kognitiven Leistungen des Einzelnen orientierte – soziale Selektion vorzunehmen, kann nur als Relikt einer finsteren Epoche gewertet werden. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Die bildungspolitische Diskussion der Gegenwart geht auf Karl Marx zurück
Das Prinzip „Jeder lernt nach seinen Fähigkeiten, jedem werden die Angebote nach seinen Bedürfnissen maßgeschneidert“ scheint im Hintergrund dieser Haltung zu wirken, ja, es scheint genau das zu beschreiben, was für eine inklusive Schule gefordert wird. Man orientiert sich an den individuellen Fähigkeiten der Schüler, entdeckt und pflegt ihre besonderen Talente und Begabungen und berücksichtigt ihre Beeinträchtigungen und Abneigungen. Diese Vorgehensweise tritt an die Stelle der Vorstellung, dass Unterricht wesentlich damit zu tun haben könnte, bestimmte Formen und Inhalte des Wissens als verbindliche Ziele zu beschreiben, die unabhängig von persönlichen Neigungen angestrebt werden sollten.
Konrad Paul Liessmann kritisiert: „Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass Abschlussbescheinigungen wie etwa Reifeprüfungszeugnisse nicht mehr für den Nachweis vergeben werden, dass allgemeinverbindliche Standards erreicht worden sind, sondern dafür, dass jeder Jugendliche im Rahmen seiner Möglichkeiten un seiner Interessen sich einigermaßen entfalten konnte.“ Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Diese Formel entspringt allerdings nicht der bildungspolitischen Diskussion der Gegenwart, sondern stammt von Karl Marx.
Der Kommunismus prägt das Schulsystem
Karl Marx beschrieb mit dieser griffigen Parole das Grundprinzip der entwickelten kommunistischen Gesellschaft: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
Karl Marx wusste noch, dass die uneingeschränkte Entfaltung von Individualität einer materiellen Basis bedarf, die es erlaubt, die Lebenschancen des Einzelnen gerade nicht davon abhängig zu machen, ob er sich durch eine Kette von Ausbildungen und Qualifikationen am Arbeitsmarkt gegen eine mitunter übermächtige Konkurrenz wird behaupten können. Zum Schluss muss die Frage erlaubt sein, warum das Prinzip des Kommunismus für Kindergärten, Volks- und Gesamtschulen bis zum „mittleren Reife“, vielleicht sogar bis zur Matura gültig sein darf, dann aber offenbar abgelöst werden sollte durch die Gesetze des Marktes und des Wettbewerbs. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann
Hans Klumbies