Die neue Mittelklasse prägt die Spätmoderne

Andreas Reckwitz nimmt den singularistischen Lebensstil der Spätmoderne, genauer unter die Lupe. In seiner reinsten Form findet er sich in der neuen, akademischen Mittelklasse. Das gelingt ihm am besten, indem er die einzelnen alltäglichen Praktiken betrachtet, aus denen er sich zusammensetzt. Dazu zählt Andreas Reckwitz unter anderem die Rolle, die das Essen und die Ernährung hier spielen sowie die Beziehung zwischen Arbeit und Freiheit. Dazu gehört auch das Verhältnis zum eigenen Körper und die Art und Weise, wie der sich durch die Welt bewegt. Ebenso bedeutend ist dabei die Rolle, die Wohnort und Wohnung samt ihrer Einrichtung spielen sowie die Bedeutung des Reisens und der Auslandsaufenthalte. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Gelegenheitssex ist eine abstrakte soziale Form

Für Eva Illouz ist Gelegenheitssex eine abstrakte soziale Form, die nicht an menschliche Besonderheit ausgerichtet ist. Mehr noch, er entkleidet andere ihrer Einzigartigkeit. Dadurch schaltet er das aus, was der französische Soziologe Luc Boltanski als Prozess der Singularisierung bezeichnet hat. Dieser stellt für ihn einen wesentlichen Aspekt von Sozialität dar. Die sexuelle Lust, die sexuelle Wahlfreiheit, das Sammeln von sexueller Erfahrung durch zahlreiche Partner haben die heterosexuelle Begegnung grundlegend verändert. Und damit zugleich auch die Wege, auf denen man stabile emotionale und kulturelle Rahmen herausbildet und aufrechterhält. Der traditionelle heteronormative Geschlechtsverkehr verfolgte dagegen einen Zweck. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Drei Segmente prägen die traditionelle Kultur

Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Kern der traditionellen Kultursphäre in jeweils einen der drei Segmente der Kultur auszumachen. In der Religion etwa bei Max Weber, in der höfischen Gesellschaft bei Norbert Elias oder in der Volkskultur bei Michail Bachtin. Tatsächlich scheint aber gerade die Koexistenz aller drei Segmente für die traditionelle Kultursphäre charakteristisch zu sein. Andreas Reckwitz erläutert: „Sie ist durch eine Kombination aus Singularisierung und Wiederholung gekennzeichnet.“ In dieser Gesellschaftsform wird deutlich, dass Singularität und Innovation beziehungsweise Kreativität nicht zusammenfallen müssen. Die traditionelle Kultursphäre ist vielmehr an solchen kulturellen Elementen orientiert, die nicht einem Regime des Neuen unterworfen, sondern als wertvoll anerkannter Gegenstand der Wiederholung sind. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Um Werte finden Kulturkämpfe statt

Andreas Reckwitz ist der festen Überzeugung, dass nicht nur der Begriff der Kultur renoviert gehört. Sondern auch der Begriff des Wertes ist zu entstauben. Nur dann ist er für die zeitgenössische Soziologie und Kulturtheorie interessant: „Unter Werten versteht man nicht neukantianisch ein Wertesystem, das der Praxis vorausgeht und sie motivational anleitet. Es geht nicht darum, dass einzelne Menschen oder ein Geschlecht bestimmte Werte haben.“ Werte muss man als Teil von gesellschaftlichen Zirkulationsdynamiken interpretieren. Diese sind ergebnisoffen und häufig konflikthaft – hier finden Kulturkämpfe statt. In der Sphäre der Kultur zirkulieren nicht nur Kunstwerke, attraktive Städte und bewundernswerte Individuen. Sie bringt auch Müll hervor. Die meisten Einheiten des Sozialen, denen die Singularisierung nicht gelingt – den Dingen, die nicht einzigartig erscheinen, oder den Menschen, denen Originalität fehlt, zum Beispiel –, bleiben in der Kultursphäre unsichtbar. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Singularisierung der Arbeitswelt schreitet unaufhaltsam voran

In der postindustriellen Ökonomie transformiert sich im Zuge des Strukturwandels der Güter und der Märkte auch die Arbeitswelt. Andreas Reckwitz erläutert: „Betroffen davon sind die Praxis des Arbeitens selbst, die Art und Weise, in der Organisationen aufgebaut sind, sowie die Kompetenzen, Wünsche und Anforderungen der arbeitenden Subjekte.“ Auf allen diesen Ebenen findet eine Kulturalisierung und Singularisierung der Arbeitsformen statt, die sich von den Strukturen standardisierter Arbeit der industriellen Moderne lösen. Die Erosion der industriellen Logik der Arbeitswelt hat die Soziologie in den vergangenen zwanzig Jahren mit unterschiedlichen Leitbegriffen herausgearbeitet: Der Begriff der immateriellen Arbeit weist darauf hin, dass vielfach weniger an materiellen Gütern, denn an Kommunikation, Zeichen und Affekten gearbeitet wird. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Drei Faktoren transformieren die Moderne zur Spätmoderne

In der Spätmoderne wird die soziale Logik der Singularisierungen, die zugleich eine der Kulturalisierung und der Intensivierung der Affekte ist, zu einer für die gesamte Gesellschaft strukturbildenden Form. Andreas Reckwitz erläutert: „Die Transformation von der organisierten Moderne zur Spätmoderne verdankt sich einer historischen Koinzidenz dreier Faktoren, die sich seit den 1970er Jahren gegenseitig verstärken. Die drei Faktoren sind: die sozio-kulturelle Authentizitätsrevolution, getragen vom neuen Stil der Mittelklasse; die Transformation der Ökonomie hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten; und die technische Revolution der Digitalisierung.“ Seit den 1970er Jahren findet in der bisherigen Industriegesellschaften ein fundamentaler sozialstruktureller Wandel statt, der zugleich ein Kultur- und Wertewandel ist. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Singularität meint das Streben nach Einzigartigkeit

Singularität meint laut Andreas Reckwitz mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung: „Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ Markant ausgeprägt ist dies in der neuen, der hochqualifizierten Mittelklasse, also in jenem Produkt von Bildungsexpansion und Postindustrialisierung, das zum Leitmilieu der Spätmoderne geworden ist. An alles in der Lebensführung legt man den Maßstab des Besonderen an: wie man wohnt, wie man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein besonderes Selbst vor den anderen, die zum Publikum werden. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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