Personalität ist ein eingeübtes Rollenspiel

Zwischen Personalität und Individualität besteht ein Unterschied. Personalität ist ein eingeübtes, von Situation zu Situation variables Rollenspiel. Menschen erstreiten damit strategische Vorteile im sozialen Wettbewerb oder erhalten sie aufrecht. Dazu gehört für Markus Gabriel so scheinbar Unproblematisches wie die menschliche Fähigkeit, körperlich unversehrt durch den Alltag zu gelangen. Dennoch ist auch die Alltagswirklichkeit dauernd vom Ausbruch von Gewalt bedroht. Man denke nur an die alltäglichen Einbrüche, Taschendiebe und brutalen U-Bahn-Schubsern. Individualität dagegen ergibt sich aus dem schieren Umstand, dass jeder Mensch unvertretbar er selber ist. Martin Heidegger nannte dies mit einem seiner unzähligen Neologismen auf Neudeutsch „Jemeinigkeit“. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Das Ich ist unteilbar

Markus Gabriel erklärt: „Dass ich ich bin und ich immer dabei bin, wenn für mich irgendetwas stattfindet, macht meine Individualität aus. Ich bin ich und Sie sind Sie. Diese Eigenschaft ist unteilbar. Das Unteilbare heißt auf lateinisch individuum.“ Als Individuen sind Menschen prä-soziale Atome. Das heißt nicht, dass die Gesellschaft aus asozialen Individuen besteht. Vielmehr sind das Soziale und das Individuelle zwei verschiedene Sinnfelder, die sich überlappen.

Sie sind aber nicht identisch und auch niemals vollständig ineinander übertragbar. Deswegen entsteht eine Spannung zwischen beiden Sinnfeldern, die sich im Extremfall als systemische Gewalt entlädt. Alles, was Menschen jemals erleben, erleben sie aus ihrer ganz persönlichen Perspektive. Diese besteht darin, dass ihnen dasjenige, was sie gerade betrifft, naturgemäß besonders wichtig erscheint. Der amerikanische Philosoph Tyler Burge spricht in diesem Zusammenhang von einem ego-zentrischen Index, der durch die Perspektive von Lebewesen ausgebildet wird.

Lust und Unlust prägen alle Tätigkeiten

Der ego-zentrische Index eines Lebewesens ist die Art und Weise, wie ihm seine Umwelt erscheint. Bereits auf der rein sensorischen Ebene des Informationsaustauschs zwischen Lebewesen und Umwelt bildet sich ein Zentrum heraus. Dieses unterscheidet zwischen Relevantem und Irrelevantem – beispielsweise zwischen Nahrung und Nichtnahrung. Auf diese Weise hat jedes Lebewesen bereits unterhalb der Schwelle von Bewusstsein eine Perspektive. Um die herum ordnet sich seine Umwelt.

Diese Perspektive kommt bei allen Lebewesen, auch beim Menschen, auf einer nicht bewussten Ebene zustande. Denn Menschen haben ja keinen bewussten Zugriff auf all die Vorgänge, die im Hintergrund ablaufen müssen, wenn sie bewusst Vorgänge steuern wollen. Markus Gabriel fügt hinzu: „Bei allem, was wir als Lebewesen jeweils tun, tauchen Lust und Unlust auf, das heißt die fundamentalen Reizsysteme, ohne die es für uns Menschen überhaupt keine Motivation gibt.“ Quelle: „Der Sinn des Denkens“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies