Die neue Mittelklasse prägt die Spätmoderne

Andreas Reckwitz nimmt den singularistischen Lebensstil der Spätmoderne, genauer unter die Lupe. In seiner reinsten Form findet er sich in der neuen, akademischen Mittelklasse. Das gelingt ihm am besten, indem er die einzelnen alltäglichen Praktiken betrachtet, aus denen er sich zusammensetzt. Dazu zählt Andreas Reckwitz unter anderem die Rolle, die das Essen und die Ernährung hier spielen sowie die Beziehung zwischen Arbeit und Freiheit. Dazu gehört auch das Verhältnis zum eigenen Körper und die Art und Weise, wie der sich durch die Welt bewegt. Ebenso bedeutend ist dabei die Rolle, die Wohnort und Wohnung samt ihrer Einrichtung spielen sowie die Bedeutung des Reisens und der Auslandsaufenthalte. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Romantik und Bürgerlichkeit bilden eine Synthese

Schließlich betrachtet Andreas Reckwitz die Art und Weise, wie man seine Kinder erzieht. Und welcher Stellenwert Schule und ganz allgemein Bildung zukommt. Eine solche Mikroanalyse erspart jedoch nicht die Beantwortung der Frage nach der abstrakten Logik der Lebensführung der neuen Mittelklasse. Um das Prinzip des singularistischen Lebensstils zu erkennen, muss man ihn in die Lebens- und Subjektformen der zweihundertjährigen westlichen Moderne einbetten.

Erst dann wird deutlich, dass in der neuen Mittelklasse zwei zunächst antipodische kulturelle Muster eine Synthese eingehen. Nämlich der Lebensstil der Romantik und jener der Bürgerlichkeit. Andreas Reckwitz stellt fest: „Der kulturhistorische Blick muss also auf das schauen, was noch vor der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne gewesen ist: die frühe, bürgerliche Moderne.“ Man kann gar nicht oft genug wiederholen, dass für die Gestalt des singularistischen Lebensstils eine kulturelle Tradition der Moderne prägend wird. Diese war allerdings bis 1970 nur von marginaler und subkultureller Relevanz.

Auf die Kulturalisierung folgt die Singularisierung

Dabei handelte es sich um jene der Romantik mit ihren Vorstellungen einer empathischen Individualität des Subjekts. Diese galt es zu entfalten und zu verwirklichen. Ausgehend vom Modell des Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des Subjekts arbeitete diese romantische Bewegung am Projekt einer umfassenden Kulturalisierung und Singularisierung der Welt. Überall ging es darum, ein bloß instrumentelles, zweckrationales und emotionsloses Weltverhältnis hinter sich zu lassen.

Die Kulturalisierung ging einher mit einer Entstandardisierung und Singularisierung. Der besondere Mensch als Individuum, das besondere Ding – Handwerk, Kunstwerk –, der besondere Ort, das besondere Ereignis sind ihre Zielmarken. Andreas Reckwitz weiß: „Erst in diesem sehr speziellen Kontext konnte der Wert der Authentizität ebenso zentral werden wie jener der Kreativität. Erst als besonderes, singuläres erscheint ein Objekt oder ein Individuum authentisch, und zugleich soll es zum Gegenstand schöpferischer Gestaltung werden. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies