Die Todesgefahr ist die extremste Bedrohung der Meinungsfreiheit

„Wenn du das sagst, bringen wir dich um.“ Dieser Satz verkörpert die extremste Bedrohung der Meinungsfreiheit. In Europa leben Tausende von Menschen versteckt oder fürchten um ihr Leben, weil sie von gewaltbereiten Islamisten, Mafiosi unterschiedlicher Couleur, mächtigen Interessengruppen, gewalttätigen Verwandten oder unterdrückerischen Regimen Todesdrohungen erhalten haben. Noch sehr viel höher sind diese Zahlen in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens. Timothy Garton Ash formuliert dagegen folgendes Prinzip: „Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung.“ Doch in der Politik kann eine solche Strategie der Beschwichtigung am Ende auch den gegenteiligen Effekt bewirken. In diesem Sinne kann, wer sich gewaltsamer Einschüchterung beugt, eben dadurch den Anreiz liefern, noch mehr mit Gewalt zu drohen. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Platon war ein politischer Denker

Die zentrale Frage der Philosophie Platons lautet: „Wie soll man leben?“ Die Antwort, die er darauf gibt, heißt „areté“ – Tugend oder Bestheit: Die Menschen sollten so leben, dass sie wirklich lebendig sind; dass sie die Lebendigkeit – „psyché“ –, die sie sind, zur vollen Entfaltung bringen. Christoph Quarch ergänzt: „Das gelingt uns dann, wenn wir mit uns und mit der Welt im Einklang sind, in Harmonie. Denn wenn wir harmonisch ins große Spiel des Lebens einstimmen, stimmen wir überein mit unserem Sein und Wesen – mit der phýsis – die wir sind.“ Wenn ein Individuum wesentlich und wahrhaft ein lebendiger Mensch sein will, ist es deshalb gut beraten, dem „lógos“ der „phýsis“ zu folgen und das Leben nicht nach Maßgabe der starren Logik des Entweder-Oder einzurichten. Der Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler Christoph Quarch arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und Berater.

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Das Gehirn des Menschen ist zeitlebens formbar

So recht scheinen viele Menschen bis heute allesamt nicht zu wissen, wer sie sind. Suchende bestenfalls, aber als solche laufen sie eben auch ständig Gefahr, sich zu verirren. Das unterscheidet den Menschen von den Tieren. Bei denen sind entweder einzelne körperliche Merkmale so spezialisiert herausgebildet, dass sie gar keine andere Möglichkeit haben, als so zu leben, wie es diese besondere Beschaffenheit ihres Körpers vorgibt: als Forelle im Bach oder als Adler in der Luft. Das Gehirn eines Menschen ist sehr viel formbarer als das eines Tieres. Gerald Hüther ergänzt: „Nicht nur während der Phase der Hirnentwicklung, sondern zeitlebens können dort neue Erfahrungen in Form neuronaler Vernetzungen und Verschaltungsmusterverankert werden. Und im Verlauf unserer bisherigen Entwicklung haben wir Menschen überall auf der Welt gelernt, unsere eigene Lebenswelt immer besser nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten.“ Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Das künstliche Selbst verbirgt die Persönlichkeit

Wo das eigene Selbstbild – die Vorstellung, die ein Mensch von sich selbst macht – von Selbsterleben ergänzt wird – ist die Herrschaft der inneren Bilder auf gesunde Weise gebrochen. Georg Milzner erläutert: „Wir entwerfen Bilder von dem, was wir sein möchten oder zu erreichen anstreben, fühlen uns aber auch in dem, was wird jetzt sind.“ Nicht immer werden die eigenen Bilder von anderen geteilt. Dann kommt es zu einem Konflikt, und man erlebt Spannungen, in deren Bewältigung sich die wachsende Psyche stärkt und bewährt. Im besten Fall wird dabei die Selbstwahrnehmung schärfer, und die Fähigkeit sich selbst auszubalancieren, nimmt zu. Denn normalerweise bildet sich ein Mensch ja nicht nur innerlich ab, er handelt und fühlt und bekommt Rückmeldungen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

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Vor zwanzig Jahren herrschte in Europa grenzenloser Optimismus

Vom weitverbreiteten Optimismus der frühen 1990er-Jahre ist heute nur noch wenig zu spüren. Wolfgang Ischinger schreibt: „Noch vor etwa zwanzig Jahren glaubten wir, dass die Welt sich nun nahezu unaufhörlich in die richtige Richtung bewegen würde. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft waren überall auf dem Vormarsch.“ Internationale Organisationen übernahmen immer mehr Aufgaben und schienen ein Modell globalen Regierens zu verkörpern, das es mit Umweltverschmutzung, Kinderarbeit und Infektionskrankheiten aufnehmen würde. Vieles schien auf dem richtigen Weg. Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 galt als Meilenstein. Eine offene Weltwirtschaft sei langfristig gut für alle, und dafür bedürfe es gemeinsamer Regeln. Das war im Prinzip breiter Konsens, auch wenn unfaire Handelspraktiken wie Dumping oder Exportzuschüsse natürlich weiter bestanden. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

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Venedig ist für seinen Karneval weltberühmt

Das Autorenteam des neuen Lonely Planet-Reiseführers „Venedig & Venetien“ stellt gleich zu Beginn die Top 10 Sehenswürdigkeiten der Lagunenstadt und der norditalienischen Provinz vor. Auf Platz eins liegt, nichts anderes war zu erwarten, die Basilica di San Marco. Egal zu welcher Stunde man die Basilika betrachtet, sie ist ein Wunderwerk. Die 800 Jahre alte Architektur mit einer Fläche von 8500 Quadratmetern mit Mosaiken stellt alles andere in den Schatten. Andere Städte haben ihre Verwaltungsgebäude, Venedig hat seinen Dogenpalast. Um in die Hallen der Macht vorzudringen, muss man zunächst die Treppe der Zensoren erklimmen und dann das mit 24-karätigem Gold geschmückte Treppenhaus von Sansovino durchschreiten, um dann in einer von Palladio entworfenen Halle mit Blick auf Tiepolos Neptun zu warten.

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Das Lesen erschafft einen neuen Menschen

Es wäre für Emmanuel Todd irrig, im Lernen des Lesens nur den Erwerb einer Technik zu sehen: „Wie schon heutige Messungen zeigen, steigert ein frühzeitiges und intensives Lesen die Gehirnleistung.“ Sicher lernen intelligente Kinder schneller lesen, aber noch wichtiger für das Verständnis der Menschheitsgeschichte ist die Erkenntnis, dass das Lesen vor allem die Kinder intelligenter macht. Wie beim Erwerb einer Fremdsprache eignet man sich diese Fähigkeit deutlich leichter vor als nach der Pubertät an. Man kann durchaus sagen, dass die Alphabetisierung das menschliche Gehirn in einer entscheidenden Phase seiner Entwicklung nachhaltig verändert hat. Das Lesen erschafft einen neuen Menschen. Es schafft einen neuen Bezug zur Welt, ermöglicht eine komplexere Innerlichkeit und verändert – im Guten wie im Schlechten – die Persönlichkeit. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Die Demokratie demonstriert eine erstaunliche Widerstandskraft

Menschenrechte zu postulieren und Demokratie zu wagen ist die beste Antwort auf die berühmte Frage des amerikanischen Philosophen John Rawls, der seine Leser aufforderte, eine gerechte Gesellschaft zu konstruieren. Philipp Blom erläutert: „Sie durften wie der weise Diktator alle Gesetze der Gesellschaft selbst bestimmen – aber sie wussten noch nicht, wo in dieser Gesellschaft sie selbst sich wiederfinden würden, ob sie als Krösus oder als Bettler leben würden, als alleinerziehende Mutter, kranker Alter oder als Popstar.“ Um die eigene Chance auf ein gutes Leben unter unvorhersehbaren Umständen zu maximieren, muss die Gesellschaft für alle so fair wie möglich sein. Allerdings stirbt jede Demokratie auf ihre eigene Weise, wie der Historiker Richard J. Evens einmal bemerkt hat. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Langsam verschwinden Müßiggang und Nichtstun

Ihre Kreativität brauche Menschen nicht nur für die „kreativen“ Dinge des Lebens. Sie üben sie auch seit frühester Kindheit, weil sie ihnen generell dabei hilft, Probleme in allen Bereichen zu lösen. Holger Volland erläutert: „Wer sich von klein auf angewöhnt hat, fantasievolle Geschichten zu erfinden, sie aufzuschreiben, zu malen, zu tanzen oder zu singen, wird auch als Erwachsener nicht vor Neuem zurückschrecken.“ Die schlechte Nachricht dabei ist: Das können immer weniger Menschen. Dafür verantwortlich ist in erster Linie eine Welt, in der Konzentration, Leistung und Wissen immer mehr zähle und Müßiggang oder Nichtstun langsam verschwinden. Wer allerdings innovative Lösungen oder kreative Ergebnisse haben möchte, muss das freie Assoziieren, das Abschweifen, das Unkonzentriertsein ebenso zulassen. Der Informationswissenschaftler Holger Volland lehrte an der Hochschule Wismar Gestaltung und kuratierte große Ausstellungen der Gegenwartskunst in Argentinien und Deutschland.

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Der technische Fortschritt ist unumkehrbar

Es besteht für Richard David Precht kein Zweifel, dass der technische Fortschritt die einzige Weiterentwicklung in der Geschichte der Menschheit ist, die unumkehrbar ist. Doch dass man heute Daten in unvorstellbarer Menge erfassen und verarbeiten kann, hat nicht nur digitale Unternehmen zu Spitzendienstleistern gemacht und die Träume von Geheimdiensten in gesellschaftliche Alpträume verwandelt. Richard David Precht schreibt: „Es hat die Politik gelähmt und die Überforderung stillgestellt. Doch nicht nur die gefühlte Ohnmacht, auch eine Veränderung in der Orientierung hat das Ethos von Politik und Gesellschaft unterspült: Es ist der Siegeszug des Messens und der Quantifizierung von allem!“ Auch Politiker verlassen sich heute auf Zahlen, Statistiken und Meinungsumfragen. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Die Besonnenheit macht das eigene Denken überprüfbar

Es geht in der Besonnenheit darum, eine Pause zu machen, aber nicht, um sich dabei in einen Zustand des Nichtdenkens zu katapultieren, um dann kurze Zeit später den Hebel wieder umzulegen, sondern darum, in diesem Moment der Pause, des Anhaltens, die Freiheit zurückzuerlangen, sich einen eigenen Blick auf die Dinge zu ermöglichen, um von dort aus das eigene Denken und Handeln überprüfbar zu machen. Ina Schmidt erläutert: „Herder spricht damit dem Menschen die Fähigkeit zu, Grenzen zu ziehen, Prozesse zu verändern oder zu beenden, letztlich nein sagen zu können. Anders als die Idee der Achtsamkeit, die die Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Moment anstrebt, geht es der Besonnenheit also um eine Form des Innehaltens. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz

Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Kindheit prägen intensive Erlebnisse

In den ersten drei Jahren lernt jeder Mansch mehr als im Rest seines Lebens. Manche Eigenschaften sind biologisch festgelegt, manche kann man verändern. Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren schreibt: „Es gibt kein Alter, in dem alles so irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit. Wir Großen sollten uns daran erinnern, wie das war.“ Babys werden in der Regel wunderbar umsorgt. Wenn sie schreien, werden sie gefüttert, fühlen sie sich unwohl, werden sie liebevoll gestreichelt und getröstet. Und sonst schlafen sie viel. Andreas Salcher ergänzt: „Sobald wir einigermaßen auf allen vieren krabbeln können, beginnen wir die Welt um uns zu entdecken, zu greifen, zu begreifen, Stufen hinaufzuklettern und wieder herunterzukommen, erste Worte zu brabbeln, mit Sand zu spielen, mit Wasser zu spritzen und vieles mehr.“ Dr. Andreas Salcher ist Unternehmensberater, Bestseller-Autor und kritischer Vordenker in Bildungsthemen.

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Die Zuversicht ist die Kraft der inneren Freiheit

Ulrich Schnabel erzählt in seinem neuen Buch „Zuversicht“ von Menschen, die ihren Lebensmut selbst unter schwierigsten Dingen nicht verloren. Dabei geht es nicht um die naive Hoffnung, dass am Ende irgendwie alles wieder gut wird. Sein Buch ist auch kein Ratgeber im positiven Denken oder eine Empfehlung zum unbeirrten Optimismus, demzufolge es niemals Krisen gibt. Es geht Ulrich Schnabel um jene Art der Zuversicht, die sich keine Illusionen über den Ernst der Lage ist – und die einen Menschen dennoch in die Lage versetzt, der Angst zu trotzen und jene Spielräume zu nutzen, die sich auftun. Die neuesten Erkenntnisse aus Medizin, Neurobiologie, Psychologie und Philosophie zeigen: Nicht die Herausforderungen sind entscheidend, sondern die innere Haltung, die ein Mensch dazu einnimmt. Ulrich Schnabel ist seit über 25 Jahren Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT.

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Der Liberalismus brachte Frieden und Wohlstand

Der Liberalismus hat trotz zahlreicher Defizite eine deutlich bessere Bilanz aufzuweisen als jede seiner Alternativen. Yuval Noah Harari stellt fest: „Die meisten Menschen genossen nie mehr Frieden oder Wohlstand als unter der Ägide der liberalen Ordnung des frühen 21. Jahrhunderts.“ Zum ersten Mal in der Geschichte sterben weniger Menschen an Infektionskrankheiten als an Altersschwäche, weniger Menschen sterben an Hunger als an Fettsucht, und durch Gewalt kommen weniger Menschen ums Leben als durch Unfälle. Doch der Liberalismus hat keine offenkundigen Antworten auf die größten Probleme, vor denen die Menschheit steht: den ökologischen Kollaps und die technologische Disruption. Der Liberalismus vertraute traditionell auf das Wirtschaftswachstum, um wie durch Zauberhand schwierige gesellschaftliche und politische Konflikte zu lösen. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

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Die Politik muss die gesellschaftlichen Werte schützen

Georg Pieper vertritt die These, dass beim Thema Werte zunächst einmal die Politik gefragt ist. Die Werte zu schützen ist ihre große Aufgabe: „Politiker müssen unmissverständlich vermitteln, dass Werte wie Demokratie, Akzeptanz des Andersartigen, Freiheitsrechte oder Gleichberechtigung unantastbar sind und absolute Gültigkeit haben.“ Sie müssen Regeln formulieren und deutlich machen, dass diese Regeln von jedem Einzelnen einzuhalten sind. Hier sind nach der Überzeugung von Georg Pieper Klarheit und Konsequenz gefragt. Sowohl was den Umgang mit Gruppierungen und Bewegungen angeht, welche die Werte in Deutschland in Frage stellen oder sogar bekämpfen, als auch im Zusammenleben mit Geflüchteten, die eine andere Sozialisation als die Deutschen haben. Das konsequente Eintreten des Staates für die Grundwerte des Zusammenlebens gibt den Bürgern ein Sicherheitsgefühl und psychischen Halt und Orientierung. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Die eigene Identität ist nicht mehr selbstverständlich

Fast jeder Mensch erlebt heute seine Identität im Wissen, dass der Andere, der Nachbar eine andere Identität hat. Diese Erfahrung nimmt der Identität ihre Selbstverständlichkeit. Es schränkt sie ein. Sie weiß, dass sie nur eine Option unter anderen ist. Isolde Charim ergänzt: „In diesem Sinne schreibt sich Pluralisierung eben als Minus, als Weniger, als Abzug von unserer jeweiligen Identität in uns alle ein. In diesem Sinn muss sich jeder – schon von klein auf – seiner prekären Identität versichern.“ Trotzdem lassen sich die Veränderungen des Kapitalismus, den man unter den Begriff „Neoliberalismus“ fasst, nicht einfach gleichsetzen mit den psychopolitischen Veränderungen der gesellschaftlichen Identität. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Wie Gott ist die Nation heilig

Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen. Er sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen. Er war gewissermaßen auch, wie ein Interpret schrieb, „die Erfindung der Literaten“, was man nicht unbedingt mit weltverändernden Projekten verbindet. Terry Eagleton ergänzt: „Und der wichtigste Grund dafür war die Bedeutung, die der Nationalismus dem Kulturbegriff beimaß.“ Vor allem durch den revolutionären Nationalismus gelang es dem Kulturbegriff, so abstrakt und ungreifbar er zunächst auch erscheinen mochte, das Antlitz der Erde zu verändern. Das Verlangen der Nationen, von ihren Kolonialherren frei zu sein, erwies sich als die wirkungsvollste Verbindung von Kultur und Politik in der Moderne, weit effektiver als die sogenannte Kulturpolitik der Gegenwart. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Entscheidungen sind die Wemarken des Lebens

„Wie treffe ich eine gute Entscheidung?“ lautet das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 02/2019. Entscheidungen sind die Wegmarken des Lebens eines Menschen. Wer in die falsche Richtung geht, setzt sein Glück und seine Freiheit, vielleicht sogar seine gesamte Zukunft aufs Spiel. Umso drängender stellt sich die Frage, wie der richtige Weg rechtzeitig zu erkennen wäre. Soll man sich bei Entscheidungen eher auf die Vernunft oder die Intuition verlassen? Oder liegt gerade im Zögern und Zaudern die Chance wahrer Selbstbestimmung? In der Geschichte der Philosophie vertreten viele große Denker die Ansicht, dass man gute Entscheidungen nur treffen kann, wenn man der Unmündigkeit durch den Gebrauch der Vernunft entflieht. Inzwischen haben aber viele Studien der Psychologie und Verhaltensforschung gezeigt, dass es manchmal auch nicht schadet, seiner Intuition zu folgen, bringt diese doch eine enorme Reduktion der Komplexität mit sich.

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Drei Faktoren transformieren die Moderne zur Spätmoderne

In der Spätmoderne wird die soziale Logik der Singularisierungen, die zugleich eine der Kulturalisierung und der Intensivierung der Affekte ist, zu einer für die gesamte Gesellschaft strukturbildenden Form. Andreas Reckwitz erläutert: „Die Transformation von der organisierten Moderne zur Spätmoderne verdankt sich einer historischen Koinzidenz dreier Faktoren, die sich seit den 1970er Jahren gegenseitig verstärken. Die drei Faktoren sind: die sozio-kulturelle Authentizitätsrevolution, getragen vom neuen Stil der Mittelklasse; die Transformation der Ökonomie hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten; und die technische Revolution der Digitalisierung.“ Seit den 1970er Jahren findet in der bisherigen Industriegesellschaften ein fundamentaler sozialstruktureller Wandel statt, der zugleich ein Kultur- und Wertewandel ist. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Postmoderne hält das Gerede von Identität für einen Wahn

Um kaum einen Begriff herrscht seit Jahrzehnten solch ein Gezerre wie um das Wort „Identität“. Die Linke trägt ihn stolz vor sich her, wenn sie „Identitätspolitik“ betreibt. Die Rechte, allen voran die „Identitäre Bewegung“, versucht, ihn neuerdings für ihre Zwecke zu kapern. Die Postmoderne hält jegliches Geschwätz von Identität für einen Wahn. Vielleicht kann die Wissenschaft hier für mehr Klarheit sorgen. Thea Dorn schreibt: „Die Freiheit der Forschung ist ein weiteres hohes Gut, auch in unserem Land. Ebenso wie die Freiheit des Glaubens.“ Aber sobald im politischen Diskurs wissenschaftliche Annahmen – keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse – und religiöse Überzeugungen als vermeintlichen Totschlagargumente aus der Tasche gezogen werden, sind sie tatsächlich nur noch eins: Totschläger. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt

Thomas Fischer lotet in seinem neuen Buch „Über das Strafen“ die Wechselwirkungen von Strafrecht und Gesellschaft aus. Einer seiner hervorstechenden Thesen lautet: „Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt.“ Denn im Strafrecht manifestiert sich erstens das Gewaltmonopol des Staates. Es steht im Fokus der politischen Bemühungen der Steuerung. Und zweitens ist die Kommunikation über das Strafrecht die Oberfläche sozialer Prozesse. Thomas Fischer vereint soziologische, philosophische und juristische Erkenntnisse zu einer so gehaltvollen wie provokativen Antwort auf die Frage nach dem Gleichgewicht von Rache und Prävention, Sicherheit und Freiheit, Affekt und Rechtsstaatlichkeit. Dabei erscheint das Strafrecht manchmal wie eine eigene Wirklichkeit, als eine mögliche, häufig sogar naheliegende Lösungsinstanz, die man aus der Unübersichtlichkeit der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Problemlagen anrufen kann. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Überall gibt es Heerscharen von Leistungsvermeidern

Alle Menschen leben in – wie sie in der Psychologie und der Soziologie genannt werden – Systemen: Familie, Beziehung, Verein, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Firma, Abteilung, Verband, Partei oder Freundeskreis. Evi Hartmann stellt fest: „Wir können keinen Fuß in diese Systeme setzen, ohne auf Heerscharen von Leistungsvermeidern zu treffen. In Unternehmen übernehmen die, die ohnehin schon üppig mit Aufgaben, Maßnahmen und Projekten versorgt sind, regelmäßig auch dann noch jene anfallenden Arbeiten, die andere, die deutlich weniger als sie leisten, mit dem Hinweise auf ihre „Überlastung“, die objektiv nicht gegeben ist, dankend ablehnen. In Vereinen, insbesondere in Sportvereinen, ist der Mangel an Ehrenamtlichen seit Jahrzehnten sprichwörtlich – was alle wissen, die in Vereinen tätig sind. Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Supply Chain Management, an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

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Migrantion ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart

Kein Mensch wird absichtlich heimatlos. Vermutlich keiner verlässt gerne den Ort, an dem die Vorfahren gelebt und gestorben sind. Christian Schüle erläutert: „Wer migriert, hat fast immer seine Heimat verloren oder war gezwungen, sie zu verlieren.“ Ihm wurde die Heimat genommen, durch Krieg, Gewalt, Dürre, Hunger, Verfolgung, Vergewaltigung, Verstoßung. Sein Zuhause ist von da an die Unbehaustheit, sein Habitat die Heimatlosigkeit. Das Selbstverständnis eines Fliehenden besteht in seiner Vertriebenheit. Migration ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart, und der Flüchtling das traurige Extrem erzwungener Wanderungsbewegungen. Heimat richtet heute an jeden Einzelnen die Frage, wie er mit Fremdheit umgehen kann und will und was er, bezogen auf das Fremde, unter dem Eigenen versteht. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Beziehungen können als die Hölle erlebt werden

Die positiven gesundheitlichen Auswirkungen der Sozialkontakte eines Menschen decken nicht das gesamte Spektrum des täglichen Miteinanders ab – und dies gilt insbesondere für Paarbeziehungen. Manfred Spitzer erläutert: „Wissenschaftliche Studien zeigen immer wieder, dass Alleinsein der „Killer Nr. 1“ ist und dass verheiratete Menschen länger leben als unverheiratete, aber ganz so einfach, wie es scheint, ist die Sache nicht.“ Der positive Effekt einer langfristigen Paarbeziehung oder Ehe muss beispielsweise nicht in der guten Partnerschaft begründet liegen, es könnte sich auch um einen Selektionseffekt handeln: Gesündere Menschen heiraten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als Kranke, und allein deswegen können verheiratete Menschen gesünder sein. Es könnte zudem auch sein, dass verheiratete Menschen über mehr Ressourcen verfügen, denn im Vergleich zum Singledasein hat die Ehe ökonomische, psychosoziale und gesellschaftliche Vorteile. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

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