Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen. Er sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen. Er war gewissermaßen auch, wie ein Interpret schrieb, „die Erfindung der Literaten“, was man nicht unbedingt mit weltverändernden Projekten verbindet. Terry Eagleton ergänzt: „Und der wichtigste Grund dafür war die Bedeutung, die der Nationalismus dem Kulturbegriff beimaß.“ Vor allem durch den revolutionären Nationalismus gelang es dem Kulturbegriff, so abstrakt und ungreifbar er zunächst auch erscheinen mochte, das Antlitz der Erde zu verändern. Das Verlangen der Nationen, von ihren Kolonialherren frei zu sein, erwies sich als die wirkungsvollste Verbindung von Kultur und Politik in der Moderne, weit effektiver als die sogenannte Kulturpolitik der Gegenwart. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.
Die Prosa der Staatenbildung ersetzte die Poesie der Revolte
Terry Eagleton vergleicht: „Im Gegensatz zum bürgerlichen Nationalismus, der sich mit Fragen wie Staatsbürgerschaft und politischen Rechten befasst, ist der romantische Nationalismus zuvörderst ein geistiges Prinzip und dann erst ein politisches Programm.“ Er ist eine poetische Spielart der Politik – offen für Bilder, Archetypen und schöpferischer Phantasie – und widmet sich Mythen, Symbolen und Blutopfern mit gleicher Ernsthaftigkeit wie dem Schutz heimischer Industrien oder der Erfindung eines Namens für die eigene Währung.
Erst als die Kolonialländer schließlich ihre Unabhängigkeit erlangten, wich die Poesie der Revolte der Prosa der Staatenbildung und des Wirtschaftsaufbaus. Ein Autor beschreibt den romantischen Nationalismus als den Aufstieg des Gefühls aus dem privaten in den politischen Bereich. Im Extremfall kann er zu einer säkularen Spielart der Religion werden, zu einem der erfolgreicheren der in der Moderne so zahlreichen Surrogate für den Allmächtigen.
Der Nationalismus bedient sich des visionären Idealismus
Wie Gott ist die Nation heilig, unteilbar, autonom, ohne Anfang noch Ende, der Ursprung aller Identität, die Transzendenz des Individuums und eine Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Terry Eagleton fügt hinzu: „Es gibt unzählige nationalistische Helden und ein Pantheon voller nationalistischer Heiliger und Märtyrer. Wie die Religion, so verbindet auch der Nationalismus die alltägliche Existenz mit visionärem Idealismus.“ Die Nation sei, so schrieb Johann Gottlieb Fichte, ein Werk Gottes.
Mit dem Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegungen wird Dichtern, Malern und Gelehrten ein Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil, an das sie aus weniger turbulenten Tagen kaum gewöhnt sind. Intellektuelle können nun wie der irische Dichter William Butler Yeats oder der senegalesische Dichter und Politiker Léopold Senghor soziale Aktivsten werden, die ihr Werk in den Dienst ihrer Nation stellen und sich mit ihren einfachen Landsleuten solidarisch erklären. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton
Von Hans Klumbies