Migrantion ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart

Kein Mensch wird absichtlich heimatlos. Vermutlich keiner verlässt gerne den Ort, an dem die Vorfahren gelebt und gestorben sind. Christian Schüle erläutert: „Wer migriert, hat fast immer seine Heimat verloren oder war gezwungen, sie zu verlieren.“ Ihm wurde die Heimat genommen, durch Krieg, Gewalt, Dürre, Hunger, Verfolgung, Vergewaltigung, Verstoßung. Sein Zuhause ist von da an die Unbehaustheit, sein Habitat die Heimatlosigkeit. Das Selbstverständnis eines Fliehenden besteht in seiner Vertriebenheit. Migration ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart, und der Flüchtling das traurige Extrem erzwungener Wanderungsbewegungen. Heimat richtet heute an jeden Einzelnen die Frage, wie er mit Fremdheit umgehen kann und will und was er, bezogen auf das Fremde, unter dem Eigenen versteht. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Identität benötigt die Vorstellung von Dauer

Das Schlimmste für alle Vertriebenen aller Zeiten ist immer das Trauma der Entwurzelung. Der Auswurf aus dem Raum der Geborgenheit. Die Ablehnung, Ächtung, Verachtung. Und je älter der Mensch ist, desto größer ist der Phantomschmerz des einstigen Vertriebenseins, der bis zum Lebensende einhergehen kann mit dem Problem der Unübersetzbarkeit seiner selbst in eine neue soziale Gemeinschaft. Die millionenfachen Traumata und Schmerzen, welche die gegenwärtigen Heimatverluste so vieler Menschen und Völker ausgelöst haben, sind nicht zu ermessen.

Christian Schüle erklärt: „Dieser Tage über Heimat zu sprechen heißt, über Grenzen zu reden, und wer über Grenzen redet, spricht immer auch über Identität.“ Identitäten sind immer Konstrukte der Wirklichkeit, wie auch die Welt, die der Einzelne wahrnimmt, immer eine Konstruktion von Realität ist. Jede Konstruktion der Wirklichkeit aber ist, um Identität werden zu können, auf die Kraft der Kontinuität angewiesen. Identität ohne die Vorstellung von Dauer ist per definitionem nicht denkbar.

Neuerdings ist ein Rückfall ins Infantile feststellbar

Der schwierige Begriff der Identität setzt, um selbst sein zu können, immer Abgrenzung voraus. Heimat ist das Gegenteil von Identität, wenn Identität eine Konstruktion ist. Aber Heimat kann Identität vermitteln, wenn das Vorgefundene mit sich identisch ist. Das Identische ist nicht Identität. Identität ist das gut verschnürte Bündel wesenhafter oder wesentlicher Merkmale eines Subjekts oder Objekts. Identität ist in jeder Hinsicht aktuell schwer im Kommen.

Kulturelle Zuordnungen sozialer Zugehörigkeit sind eine Form geistiger Selbstbeheimatung und generieren virtuelle Gemeinschaften. Christian Schüle stellt fest: „Auf dem vermeintlichen Höhepunkt der Zivilisation in den ersten 16 Jahren der 2000er gibt es einen Regress ins Infantile zu verzeichnen, dem Freund-Feind-Schema analog zum primitiven Reiz-Reaktions-Muster der Twitter- und Facebook-Ära: Daumen rauf, Daumen runter.“ Entweder die alles überwältigende, superlativistische Begeisterung – oder Häme, Kränkung, Niedertracht. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies