Drei Faktoren transformieren die Moderne zur Spätmoderne

In der Spätmoderne wird die soziale Logik der Singularisierungen, die zugleich eine der Kulturalisierung und der Intensivierung der Affekte ist, zu einer für die gesamte Gesellschaft strukturbildenden Form. Andreas Reckwitz erläutert: „Die Transformation von der organisierten Moderne zur Spätmoderne verdankt sich einer historischen Koinzidenz dreier Faktoren, die sich seit den 1970er Jahren gegenseitig verstärken. Die drei Faktoren sind: die sozio-kulturelle Authentizitätsrevolution, getragen vom neuen Stil der Mittelklasse; die Transformation der Ökonomie hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten; und die technische Revolution der Digitalisierung.“ Seit den 1970er Jahren findet in der bisherigen Industriegesellschaften ein fundamentaler sozialstruktureller Wandel statt, der zugleich ein Kultur- und Wertewandel ist. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die Authentizität des Selbst gewinnt enorm an Signifikanz

In seinem Zentrum steht die neue Mittelklasse, die ihren Aufstieg der Bildungsexpansion verdankt und formal durch Hochschulbildung und ein hohes kulturelles Kapital gekennzeichnet ist. Die neue Mittelklasse ist in diesem Sinne eine akademische Mittelklasse, die primär in der Wissens- und Kulturökonomie der entstehenden postindustriellen Gesellschaft tätig und deren wichtigste soziale Trägergruppe ist. Diese sozialstrukturelle Transformation geht mit einem Wertewandel einher.

Die materialistischen sowie Plicht- und Akzeptanzwerte, die in der Industriegesellschaft prägend waren, werden dabei von postmaterialistischen Orientierungen an der Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung abgelöst. Die leitenden Maßstäbe, an denen sich die Lebensführung orientiert, wechseln damit von denen des Allgemeinen und hin zu jene des Besonderen und der Kultur. Die alten, rationalistischen Maßstäbe der Lebensstandards werden in der neuen Mittelklasse von den Maßstäben der Lebensqualität überlagert. Die Authentizität des Selbst gewinnt für sie enorm an Signifikanz.

Die Digitalisierung ermöglicht die Massenproduktion von Singularitäten

Das eigene Selbst soll in seiner Besonderheit entfaltet werden, und die Suche nach entsprechenden authentischen Erfahrungen – im Beruf, im Privatleben, in der Freizeit – wird zum Leitmotiv. Darin genau besteht die spätmoderne Revolution der Authentizität. Dieser Wertewandel knüpft an die Tradition der kulturellen und ästhetischen Gegenbewegungen der Moderne an, die von der Romantik ausgehen und über die Lebensreformbewegungen bis hin zur Counter Culture der 1960er und 70er Jahre reichen.

Parallel zum und verflochten mit dem Aufstieg dieses neuen, an Authentizität interessierten Mittelklasse findet seit den 1970er Jahren ein Strukturwandel der kapitalistischen Ökonomie statt. Diese transformiert sich im Kern von einer Industrieökonomie in eine Wissens- und Kulturökonomie – eine Ökonomie der Singularitäten, deren Zentrum die creative economy bildet. Zugleich und damit verknüpft findet die technologische Revolution der Digitalisierung statt. Diese stellt erstmals in der Geschichte eine Infrastruktur zur Verfügung, welche die Fabrikation von Singularitäten und von Kultur systematisch und in nie zuvor dagewesenem Umfang ermöglicht. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies