Die eigene Identität ist nicht mehr selbstverständlich

Fast jeder Mensch erlebt heute seine Identität im Wissen, dass der Andere, der Nachbar eine andere Identität hat. Diese Erfahrung nimmt der Identität ihre Selbstverständlichkeit. Es schränkt sie ein. Sie weiß, dass sie nur eine Option unter anderen ist. Isolde Charim ergänzt: „In diesem Sinne schreibt sich Pluralisierung eben als Minus, als Weniger, als Abzug von unserer jeweiligen Identität in uns alle ein. In diesem Sinn muss sich jeder – schon von klein auf – seiner prekären Identität versichern.“ Trotzdem lassen sich die Veränderungen des Kapitalismus, den man unter den Begriff „Neoliberalismus“ fasst, nicht einfach gleichsetzen mit den psychopolitischen Veränderungen der gesellschaftlichen Identität. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Die Veränderung der Identitäten ist auch von der Pluralisierung bestimmt

Nicht nur weil der Zusammenhang von Ökonomie und Identität nicht mechanisch als einfache Determinierung, als direkte, unmittelbare Bestimmung zu denken ist. Sondern auch weil die Veränderung der Identitäten eben nicht nur vom neuen Kapitalismus, sondern eben auch von der Pluralisierung, also der völlig neuartigen Zusammensetzung der Gesellschaft, bestimmt ist. Insgesamt gilt für Isolde Charim: „Subjektivität erschöpft sich nie in der Zurichtung durch die ökonomischen Vorgaben.“

So ging schon das demokratische Rechtssubjekt des ersten Individualismus über die Unterwerfung des industriellen Kapitalismus hinaus. Und auch das singularisierte Individuum des sogenannten zweiten Individualismus ist nicht einfach das Subjekt, das der Neoliberalismus erzeugen möchte – also das vereinzelte Subjekt, das ständig an seiner Selbstoptimierung arbeitet, das allein, ohne Solidargemeinschaft in der Konkurrenzgesellschaft bestehen muss.

Die meisten Menschen leben auch heute nicht als Vereinzelte

Der Neoliberalismus ist ein extrem raffiniertes System, das darauf abzielt, die Ressource Mensch als Ganzes, also nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die geistigen Potenziale anzuzapfen. Aber nicht einmal dieser ist ein so totales System, dass er das Leben, die Gesellschaft, die Subjekte gänzlich bestimmen könnte. Am Beispiel der Vereinzelung zeigt sich das besonders deutlich. Isolde Charim stellt fest: „Als neoliberale Subjekte sind wir eine Gesellschaft von vereinzelten Individuen, die nur der Umlaufbahn ihrer eigenen Karriere folgen. Als pluralisierte Subjekte hingegen sind wir sehr wohl Teil von Gruppen – keine Gesellschaft von Vereinzelten, sondern eine Gesellschaft von zahlreichen kollektiven Identitäten.“

Was aber nun passiert, ist eine Veränderung dieser Subgruppen, dieser kollektiven Identitäten. Diese Veränderung ist nicht die neoliberal erwartbare einer Loslösung und Vereinzelung. Es ist vielmehr eine pluralisierte Gruppenzugehörigkeit. Wurden die kapitalistischen Veränderungen durch Neoliberalisierung und Globalisierung als „globales Dorf“ beschrieben – als Herstellung einer Einheitskultur –, so zeitigt die Pluralisierung ganz andere Folgen. Entgegen der verbreiteten Annahme leben die meisten Menschen auch heute nicht als Vereinzelte, sondern in unterschiedlichen Subgruppen. Es gibt also eine Pluralisierung, eine Vervielfältigung von Milieus, von kollektiven Identitäten. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies