Die Lehren aus der Geschichte und die zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. Robert Menasse stellt fest: „Geplant war die Überwindung des Nationalismus, und man kann füglich darüber streiten, wie weit die Gründungsgeneration vorausgeblickt hatte und ob sie sich perspektivisch sogar auch ein Absterben der Nationalstaaten hatte vorstellen können.“ Denkt man darüber nach, hätte es eine innere Logik, und es gäbe logische Argumente für seine Notwendigkeit. Die Europäische Union (EU) hatte, durch ihre Utopie, die über mehr als ein halbes Jahrhundert in Realpolitik übersetzt wurde, einige Schritte in diese Richtung gemacht. Seit 1988 lebt der Romancier und kulturkritische Essayist Robert Menasse hauptsächlich in Wien.
EWG
Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde
Thea Dorn rät: „Um Licht ins Dunkel des Wir-Begriffs zu bringen und zu begreifen, welches Wir Herz und Geist berührt und welches Wir lediglich den Verstand oder die Eigeninteressen anspricht, hilft es, sich die Unterschiede zu vergegenwärtigen, die der deutsche Soziologe, Nationalökonom und Philosoph Ferdinand Tönnies bereits Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der „Gesellschaft“ und der „Gemeinschaft“ herausgearbeitet hat.“ Unter „Gemeinschaft“ versteht er jede Gruppe, die sich durch „reales und organisches Leben“ miteinander verbunden fühlt. Demgegenüber beruhe jede „Gesellschaft“ auf „ideeller und mechanischer Bildung“. Im ersten Paragrafen seines epochalen Werks „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887 stellt Ferdinand Tönnies fest: „Alles vertraute, heimliche, ausschließende Zusammenleben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden.“ Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.
Vor zwanzig Jahren herrschte in Europa grenzenloser Optimismus
Vom weitverbreiteten Optimismus der frühen 1990er-Jahre ist heute nur noch wenig zu spüren. Wolfgang Ischinger schreibt: „Noch vor etwa zwanzig Jahren glaubten wir, dass die Welt sich nun nahezu unaufhörlich in die richtige Richtung bewegen würde. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft waren überall auf dem Vormarsch.“ Internationale Organisationen übernahmen immer mehr Aufgaben und schienen ein Modell globalen Regierens zu verkörpern, das es mit Umweltverschmutzung, Kinderarbeit und Infektionskrankheiten aufnehmen würde. Vieles schien auf dem richtigen Weg. Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 galt als Meilenstein. Eine offene Weltwirtschaft sei langfristig gut für alle, und dafür bedürfe es gemeinsamer Regeln. Das war im Prinzip breiter Konsens, auch wenn unfaire Handelspraktiken wie Dumping oder Exportzuschüsse natürlich weiter bestanden. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.
So sah Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus
Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die deutschen Städte in Trümmern. Ihre historischen und industriellen Zentren waren bis zu 80, 90 Prozent zerbombt. Josef Joffe ergänzt: „Total war die moralische Zerstörung nach dem Vernichtungskrieg gegen Juden und andere „Untermenschen“. Die „Stunde null“ wurde zum geflügelten Wort.“ Vor den Deutschen lagen Ächtung und Vergeltung, so weit das Auge reichte. Selbst ein freundlicher Beobachter wie der amerikanischen Deutschland-Historiker Fritz Stern erinnert sich an sein Gefühl des „Misstrauens und der Abscheu“. Doch den Westdeutschen sollte ein dreifaches Glück zuteilwerden. Einmal in der Gestalt von Konrad Adenauer, der 1949 im Bundestag mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt wurde – seiner eigenen. Sein Widersacher, der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, stand für einen national-neutralistischen Kurs kontra Westbindung und Integration. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.
Dominik Geppert erklärt die europäische Integration nach 1945
Die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg hatte laut Dominik Geppert verschiedene Ursachen. Zum einen gab es die wirtschaftliche Notwendigkeit, die organische Verbindung zwischen den Industrieregionen an Rhein und Ruhr, im Saarland, in Luxemburg und in Lothringen wiederherzustellen. Zum anderen hatten die beiden Supermächte USA und Sowjetunion den Europäern im Rahmen des Kalten Kriegs eine Ordnung der Stabilität und Passivität aufgezwungen, die auf der Drohung gegenseitiger nuklearer Vernichtung beruhte. Der amerikanische Historiker James Sheehan stellte fest: „Die Entstehung eines neuen Europas war nicht die Ursache für einen langen Frieden nach 1945; der Friede war die notwendige Voraussetzung für das neue Europa.“ Dominik Geppert ist seit 2010 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.
Die europäische Integration vollzog sich in Schüben und Sprüngen
Für die Bundesrepublik brachte das Projekt Europa nicht nur die schrittweise Rückgewinnung der staatlichen Souveränität und den Schutz vor der Sowjetunion im Kalten Krieg, sondern auch die Versöhnung mit Frankreich. Die Deutschen konnten sich endlich aus jener halbhegemonialen Position und einer gefährlichen außenpolitischen Isolierung befreien. Die europäische Einigung erscheint vielen Historikern als logische Fortsetzung der deutschen Nationalgeschichte. Doch Dominik Geppert hat ein Problem mit dieser gängigen Interpretation, da sie mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre immer weniger in Einklang zu bringen ist. Er vertritt die These, dass sich die gängigen historischen Begründungen der europäischen Einigung gerade in ihr Gegenteil verkehren. Dominik Geppert erklärt: „Das gilt für den Abbau zwischenstaatlicher Konflikte ebenso wie für die Bewahrung von Recht und Demokratie und die Mehrung von Sicherheit und Wohlstand.“ Dominik Geppert ist seit 2010 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.