Die Postmoderne hält das Gerede von Identität für einen Wahn

Um kaum einen Begriff herrscht seit Jahrzehnten solch ein Gezerre wie um das Wort „Identität“. Die Linke trägt ihn stolz vor sich her, wenn sie „Identitätspolitik“ betreibt. Die Rechte, allen voran die „Identitäre Bewegung“, versucht, ihn neuerdings für ihre Zwecke zu kapern. Die Postmoderne hält jegliches Geschwätz von Identität für einen Wahn. Vielleicht kann die Wissenschaft hier für mehr Klarheit sorgen. Thea Dorn schreibt: „Die Freiheit der Forschung ist ein weiteres hohes Gut, auch in unserem Land. Ebenso wie die Freiheit des Glaubens.“ Aber sobald im politischen Diskurs wissenschaftliche Annahmen – keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse – und religiöse Überzeugungen als vermeintlichen Totschlagargumente aus der Tasche gezogen werden, sind sie tatsächlich nur noch eins: Totschläger. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Timothy Garton Ash prägte den Begriff der „robusten Zivilität“

Kein emanzipatorischer Fortschritt, der je erkämpft wurde, ist endgültig. Noch sollte sich irgendwer auf der trügerischen Annahme ausruhen, Fortschritt sei für alle Zeiten und ganz von selbst gesichert. Aber so, wie es Zeiten der Beschleunigung gibt, gibt es Zeiten, in denen man möglicherweise klüger und besser vorankommt, wenn man für eine Weile in ein gemächlicheres Tempo wechselt. Seit einer Weile geistert das Schlagwort der „robusten Zivilität“ durch die deutschen Gazetten, das der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash geprägt hat.

Prinzipiell hat Thea Dorn nichts gegen diesen Begriff. Im Gegenteil: Sie würde die „Robustheit“ gerne als sechste Tugend – neben der Anmut, der Mühe, der Leidenschaft, dem Verstand und der Geduld – in den Katalog des geistigen und charakterlichen Rüstzeugs aufnehmen, das ein Mensch benötigt, wenn er die Zivilität seiner Gesellschaft erhalten beziehungsweise verteidigen und befördern will. Allerdings ist Thea Dorn strikt dagegen, nach dieser „Robustheit“ immer nur dann zu rufen, wenn islamistische Terrorattentäter Bürger der westlichen Welt ermorden.

Im öffentlichen Raum breitet sich Paranoia und Hysterie aus

Thea Dorn erläutert: „Um kein paranoider Überwachungsstaat zu werden, brauchen wir bei solch furchtbaren Anlässen eine ebenso solide wie „zivile Robustheit“, das würde ich nie bestreiten. Aber eine ähnliche „Robustheit“ muss auch all denen abverlangt werden, die sich seit Jahren lauter und lauter um die Trophäe des am schlimmsten behandelten Opfers rangeln.“ Thea Dorn kann allerdings nachempfinden, dass man als Angehöriger einer Minderheit, die lange gesetzlich diskriminiert wurde und im Alltag bisweilen immer noch diskriminiert wird, eine besondere Sensibilität für Beleidigungen und schiefe Blicke entwickelt.

Die Zivilität, von der Thea Dorn spricht, gebietet den Menschen, dass sie sich im Alltag bemühen, einander nicht unnötig vor den Kopf zu stoßen oder zu beleidigen. Leider ist nicht erkennbar, dass das soziale Miteinander freundlicher und rücksichtsvoller wird. Ganz im Gegenteil: Der öffentliche Raum wird mehr und mehr von Paranoia und Hysterie beherrscht. Beständig schauen sich viele Menschen um, ob hinter ihrem Rücken nicht wieder ein „böses“ Wort gefallen ist oder ein scheeler Blick geworfen wurde. Sie haben verlernt, zwischen den echten, den schlimmen, gewalttätigen „Makro-Aggressionen“ und lästigen Kinkerlitzchen zu unterscheiden. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies