Vor zwanzig Jahren herrschte in Europa grenzenloser Optimismus

Vom weitverbreiteten Optimismus der frühen 1990er-Jahre ist heute nur noch wenig zu spüren. Wolfgang Ischinger schreibt: „Noch vor etwa zwanzig Jahren glaubten wir, dass die Welt sich nun nahezu unaufhörlich in die richtige Richtung bewegen würde. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft waren überall auf dem Vormarsch.“ Internationale Organisationen übernahmen immer mehr Aufgaben und schienen ein Modell globalen Regierens zu verkörpern, das es mit Umweltverschmutzung, Kinderarbeit und Infektionskrankheiten aufnehmen würde. Vieles schien auf dem richtigen Weg. Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 galt als Meilenstein. Eine offene Weltwirtschaft sei langfristig gut für alle, und dafür bedürfe es gemeinsamer Regeln. Das war im Prinzip breiter Konsens, auch wenn unfaire Handelspraktiken wie Dumping oder Exportzuschüsse natürlich weiter bestanden. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der renommiertesten deutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

In den 1990er-Jahren schien sich Russland in eine Demokratie zu entwickeln

China war damals noch kaum auf der geopolitischen Landschaft zu finden. Das Reich der Mitte war mitten in einem Wirtschaftsaufschwung, aber kaum jemand dachte daran, dass es sich auch zu einem politischen Rivalen der bisher größten Wirtschaftsmacht den USA, entwickeln könnte. Stattdessen glaubten viele daran, dass China, sich durch die Einbindung in internationale Organisationen, zu einem verantwortlichen Partner in die bestehende liberale Weltordnung einfügen würde.

In den 1990er-Jahren sah der Westen Russland als Partner, als ein Land, das sich modernisierte und sich in Richtung einer echten Demokratie entwickeln würde. Aus der KSZE wurde die OSZE. Es änderte sich zwar scheinbar nur ein Buchstabe, aus der „Konferenz“ wurde fortan die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Aber dahinter steckte eine visionäre Vorstellung, wie sie der damalige russische Präsident Michail Gorbatschow formuliert hatte, vom „gemeinsamen Haus Europa“, gemeinsam für West und Ost.

Die Europäische Union wurde 1992 gegründet

Wolfgang Ischinger fügt hinzu: „In Europa standen die Zeichen insgesamt auf Kooperation. Nach Jahrzehnten, in denen eine kleine, aber größer werdende Gruppe europäischer Länder wirtschaftlich und politisch immer enger zusammenarbeitete, wurde 1992 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die Europäische Union (EU). Seither ist die Mitgliederzahl beträchtlich gewachsen, von 12 im Jahr 1992 auf 28 heute. Damals glaubten fast alle, dass Europa auf dem Weg zu einer „immer engeren Union“ voranschreiten würde.

Die USA unterstützten – nicht immer vorbehaltlos, aber doch aus Prinzip – die Europäer dabei, ihre Zusammenarbeit zu vertiefen, und befürworteten die Erweiterungsschritte der EU, die von der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Länder in die NATO begleitet wurden. Diese Länder schienen nach dem Ende des Kalten Kriegs endlich ihren Platz im Westen zu finden. Die USA reduzierten zwar in Europa stationiertes militärisches Personal beträchtlich, aber niemand zweifelte ernsthaft daran, dass die Vereinigten Staaten auch weiterhin in Europa engagiert und damit eine „europäische Macht“ bleiben würde. Quelle: „Welt in Gefahr“ von Wolfgang Ischinger

Von Hans Klumbies