Der Liberalismus brachte Frieden und Wohlstand

Der Liberalismus hat trotz zahlreicher Defizite eine deutlich bessere Bilanz aufzuweisen als jede seiner Alternativen. Yuval Noah Harari stellt fest: „Die meisten Menschen genossen nie mehr Frieden oder Wohlstand als unter der Ägide der liberalen Ordnung des frühen 21. Jahrhunderts.“ Zum ersten Mal in der Geschichte sterben weniger Menschen an Infektionskrankheiten als an Altersschwäche, weniger Menschen sterben an Hunger als an Fettsucht, und durch Gewalt kommen weniger Menschen ums Leben als durch Unfälle. Doch der Liberalismus hat keine offenkundigen Antworten auf die größten Probleme, vor denen die Menschheit steht: den ökologischen Kollaps und die technologische Disruption. Der Liberalismus vertraute traditionell auf das Wirtschaftswachstum, um wie durch Zauberhand schwierige gesellschaftliche und politische Konflikte zu lösen. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

Das Wirtschaftswachstum ist die Ursache für die ökologische Krise

Der Liberalismus versöhnte das Proletariat mit der Bourgeoisie, die Gläubigen mit den Atheisten, die Einheimischen mit den Zuwanderern und die Europäer mit den Asiaten, indem er jedem ein größeres Stück vom Kuchen versprach. Doch das Wirtschaftswachstum wird das globale Ökosystem nicht retten – im Gegenteil, es ist die Ursache für die ökologische Krise. Und das Wirtschaftswachstum wird auch die technologische Disruption nicht lösen – denn es beruht auf der Erfindung von immer mehr disruptiven Technologien.

Der Liberalismus und die Logik der freien Marktwirtschaft ermutigen die Menschen zu großen Erwartungen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam jede Generation in den Genuss von besserer Bildung, besserer Gesundheitsversorgung und höheren Einkommen als die jeweilige Vorgängergeneration. In den kommenden Jahrzehnten jedoch dürfte die jüngere Generation dank einer Kombination aus technologischer Disruption und ökologischer Kernschmelze froh sein, wenn es ihr nicht deutlich schlechter geht als ihren Vorgängern.

Die Menschheit braucht frische Visionen

So wie die Umwälzungen der industriellen Revolution die neuen Ideologien des 20. Jahrhunderts gebaren, so werden die kommenden Revolutionen in Biotechnologie und Informationstechnologie wahrscheinlich frische Visionen erfordern. Die nächsten Jahrzehnte könnten deshalb gekennzeichnet sein durch intensives Insichgehen und durch die Formulierung neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Gegenwärtig ist die Menschheit allerdings weit davon entfernt, einen allumfassenden Konsens in Fragen der Freiheit und Gleichheit zu finden.

Yuval Noah Harari schreibt: „Wir befinden uns immer noch im nihilistischen Moment der Desillusionierung und des Zorns – die Menschen haben den Glauben an die alten Erzählungen verloren, verfügen aber noch über keine neuen.“ Was also tun? Der erste Schritt besteht für Yuval Noah Harari darin, die Prophezeiungen des Untergangs herunterzudimmen und vom Panikmodus in den der Verunsicherung umzuschalten. Denn Panik ist eine Form von Hybris. Sie geht mit dem selbstgefälligen Gefühl einher, dass man genau weiß, wohin die Welt steuert – nämlich Richtung Abgrund. Quelle: „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari

Von Hans Klumbies