Die Besonnenheit macht das eigene Denken überprüfbar

Es geht in der Besonnenheit darum, eine Pause zu machen, aber nicht, um sich dabei in einen Zustand des Nichtdenkens zu katapultieren, um dann kurze Zeit später den Hebel wieder umzulegen, sondern darum, in diesem Moment der Pause, des Anhaltens, die Freiheit zurückzuerlangen, sich einen eigenen Blick auf die Dinge zu ermöglichen, um von dort aus das eigene Denken und Handeln überprüfbar zu machen. Ina Schmidt erläutert: „Herder spricht damit dem Menschen die Fähigkeit zu, Grenzen zu ziehen, Prozesse zu verändern oder zu beenden, letztlich nein sagen zu können. Anders als die Idee der Achtsamkeit, die die Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Moment anstrebt, geht es der Besonnenheit also um eine Form des Innehaltens. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

Nur der Mensch hat die Fähigkeit zum Neinsagen

Ein Gedanke, den zu Beginn des 20. Jahrhunderts Max Scheler aufnimmt, der in seiner Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928) den Menschen durch die Fähigkeit zum Neinsagen als Asketen des Lebens hervorhebt, der nicht obwohl, sondern gerade deshalb in der Lage ist, sich geistig und kulturell zu entfalten – auf diese Weise verstanden bedeutet die Besonnenheit „ein freiwilliges Verweilen in der jeweiligen Frage“, das sich nicht dem Zwang einer Antwort oder der Pflicht eines Ziels zu beugen bereit ist.

Ina Schmidt schreibt: „Die Größe einer tiefen Besonnenheit macht sie zu einem stabilen Fundament unserer Handlungen, eine Haltung, die nicht nur weit über das nur gemaßregelte Verhalten einer bürgerlichen Vernunft hinausreicht, sondern im Gegenteil die Kraft hat, dass allgemeine Nützlichkeitsstreben durch die Notwendigkeit der eigenen Frage aufzuhalten.“ Es ist also keine Form kühler Selbstbeherrschung oder langweiliger Pflichterfüllung, die als Besonnenheit missverstanden werden darf.

Die Kraft des eigenen Nachfragens ersetzt so manches To-do

Ganz im Gegenteil: Die Besonnenheit ist also die menschliche Fähigkeit, sich selbst in ein Verhältnis zur Welt zu setzen und mithilfe der Vernunft daraus Schlüsse für das bestmögliche Handeln zu ziehen. Wer seine Suche im Geiste nach einer ernsthaften Wiederbelebung der Aufklärung ernst nehmen will, für den gilt es, gerade die Besonnenheit an die Stelle willenloser Selbstoptimierung zu setzen. Die Kraft des eigenen Nachfragens ersetzt so manches To-do.

Wer den Mut aufbringt, in den Widerstand zur Zielstrebigkeit der eigenen Glücksuche zu treten, für den gilt es, das, was er sieht, nicht ständig bejahen und können zu müssen, zu liken oder noch mehr davon zu produzieren, sondern einfach einmal Nein zu sagen, Nein zu dem, was er aus gutem Grund nicht versteht, nicht mag oder anerkennen kann – zumindest solange, bis er weiß, was es ist. Das ist viel weniger die nächste zu erlernende Kompetenz im Kampf gegen die Tücken des modernen Daseins, sondern einfach die Bereitschaft, auch mal nicht kompetent zu sein. Quelle: „Das Ziel ist im Weg“ von Ina Schmidt

Von Hans Klumbies