Europa bestimmt seine eigene Identität

Das Zeitalter der Aufklärung ist nicht nur selbst ein sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckendes Phänomen, es entwickelt auch als erste Epoche ein eigenständiges Bild von Europa als zivilisatorisches Gebilde. Wenn aufklärerisches Selbstverständnis und europäisches Bewusstsein der „philosophes“ (Aufklärer) in der Folge eine enge Verbindung eingehen, dann vor allem deshalb, weil die Aufklärer sich selber als eine genuin europäische Bewegung definieren, ebenso wie umgekehrt Europa von ihnen gerade als der geschichtliche Raum verstanden wird, der seit dem 16. Jahrhundert von dem Prozess der Aufklärung erfasst worden ist. Der Diskurs über Europa im Zeitalter der Aufklärung kann als Ausdruck eines spezifisch europäischen Bedürfnisses begriffen werden, die eigene Identität in Abgrenzung zur außereuropäischen Welt zu bestimmen. Im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts ist das Bild von Europa in erster Linie politischer Natur.

Eine einheitliche Definition Europas gibt es in der Zeit der Aufklärung nicht

Als solches entsteht es in Deutschland nicht im Umfeld der eher universalistisch gestimmten Weimarer Klassik, sondern in der völkerrechtlichen Literatur in der Nachfolge Samuel Pufendorfs. Selbst in einem Land wie Italien, das im Europa der Aufklärung eher eine Randposition einnimmt, lassen sich ebenfalls Belege dafür finden, wie sich ein sich entwickelndes aufklärerisches Selbstbewusstsein mit der Wahrnehmung Europas als Heimat der Aufklärung verbindet. Ebenso wie die europäische Aufklärung keine in sich homogene Bewegung gewesen ist, so hat sie auch nicht eine einzige erschöpfende, einheitliche Definition Europas hervorgebracht.

Vielmehr scheinen sich in der Vielfältigkeit des aufklärerischen Bildes von Europa auch die unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen der europäischen Aufklärung zu spiegeln. Dabei lässt sich indes ein gemeinsamer Kern in der Wahrnehmung des zeitgenössischen Europas als Heimat der Aufklärung ausmachen. Das heißt, als Kontinent, der zum alleinigen Schauplatz der seit dem Ende des Mittelalters erzielten Fortschritte des menschlichen Geistes geworden sei und – als unmittelbare Folge dieses Prozesses – gemeinsame zivilisatorische und politische Lebensformen entwickelt habe, die die verschiedenen Staaten und ihre Bewohner zu einer Art von Gemeinschaft haben werden lassen.

Europa erhebt einen weltweiten Führungsanspruch

Das Bewusstsein, auf einem den anderen Erdteilen in der geschichtlichen Entwicklung überlegenen Kontinent zu leben, korrespondiert dabei mit der Vorstellung in einer gegenüber den vorangegangenen Zeiten weit fortgeschrittenen Epoche zu leben, und wird ebenso wie diese zum integrativen Teil des Selbstverständnisses der Aufklärer. Daraus leitet man einen eindeutigen Führungsanspruch Europas gegenüber der übrigen Welt ab und gerät damit zwangsläufig in Konflikt mit der ebenfalls vorhandenen kosmopolitischen Ausrichtung der Aufklärer.

In den geschichtsphilosophischen Schriften eines Voltaires wird Europa beispielsweise zum Subjekt dieser Geschichte des Fortschritts und damit zum fortgeschrittensten Erdteil im weltgeschichtlichen Prozess der Zivilisation erklärt. Während einerseits die Entdeckung der „unzivilisierten“ Welt in Übersee den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Zivilisation zu bestätigen schien, lieferte andererseits die Eroberung selbst und die dabei von den Europäern angewandten Methoden den Anlass zu scharfer Selbstkritik. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies