Ohne Geborgenheit gibt es keine Heimat

Oikos im griechisch-antiken Sinne begreift Heimat als metaphysisches und rechtliches Obdach. Die mikrosoziale Gemeinschaft als Keimzelle einer größeren Gemeinschaft. Die Enklave des Vertrauens. Die Verbundenheit und Verbindlichkeit der Familie. Der Begriff der Heimat löst sich von seinem herkömmlichen Sinn und erfährt eine Transformation in den Oikos. Mit ideologischer Verbrämung, sozialistischer oder antistaatlicher Ideologie hat das Oikos-Prinzip nichts zu tun. Denn es zielt auf Höheres: die Partizipation an der Polis. Christian Schüle erläutert: „Partizipation – wohlgemerkt das Gegenteil von Ausgeschlossenheit und Ausgrenzung – beschreibt das Verhältnis von Teilhabe und Teilnahme an Welt und Umwelt.“ Die kulturelle Evolution, so scheint es, steht vor ihrem nächsten Sprung: Statt Nationen könnte es künftig konföderierte, auf Parzellen basierende Bündnisse geben. Zudem Netzwerke von Kooperativen, in denen das Heterogene zu völlig neuen Organisationsformen führt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Teilhabe ruft selbstverpflichtende Verantwortung hervor

Die Sozialpsychologie vertritt die These, dass Teilhabe selbstverpflichtende Verantwortung hervorruft. Eigenverantwortung stärkt die soziale Gesinnung und motiviert zum Engagement, und je größer das Mitspracherecht ist, desto eher identifizieren sich Menschen mit einer Gegebenheit. In der mikrosozialen Einheit der Kooperative ist die Last der Verantwortung auf die einzelnen Mitglieder verteilt. Ohne Verantwortung entsteht kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Geborgenheit, ohne Geborgenheit keine Heimat.

Der Oikos – worin Ökonomie und Ökologie gleichermaßen begriffen sind – generiert das wichtigste Bindemittel zerfallender Gemeinschaften: das Gefühl der Beteiligung. Das Gefühl, zu brauchen und gebraucht zu werden. Christian Schüle erklärt: „In der symbiotischen Bestimmung von Brauchen und Gebrauchtwerden, im Brauchtum sozusagen, ermöglicht sich soziale Anerkennung in der loyalen Gemeinschaft.“ Die Geschichte der großen Metropolen und Städte zeigt, dass immer schon Menschen von überall her dorthin strömten, wo sie ein gutes Leben führen, ihren Glauben leben und in Freiheit Handel treiben konnten.

Ausgrenzung und Ausschluss führen niemals zum Erfolg

Die klügsten und erfolgreichsten Herrscher hatten stets begriffen, dass Ausschluss und Ausgrenzung niemals zum Erfolg führen. Im Gegenteil. Kaum eine Stadt lehrt die Vorteile einer Aufnahme und Assimilation von Christen, Juden, Muslimen und anderen besser und nachhaltiger als – in seiner historischen Genese betrachtet – das heutige Istanbul, das als Konstantinopel und Byzanz die Welt über Jahrhunderte hinweg beherrschte und prägte. Mehmet II. hatte bestens verstanden, dass er die mit allerlei Fähigkeiten ausgestatteten Menschen aus allen Teilen der Welt benötigte, um Istanbul auf- und als ökonomische und kulturelle Großmacht auszubauen.

Es geht also darum, dass die Osmanen – klug, wie sie waren – andere Traditionen anderer Kulturen übernahmen, wie es weit früher auch in Bagdad geschehen war, die als neue Hauptstadt des Abbasiden-Reichs 762 n. Chr. gegründet wurde und sich zur größten, prächtigsten und geschäftstüchtigsten Stadt der damaligen Welt entwickelte. Schiffe und Karawanen strömten ein, brachten Güter und Händler, und mit ihnen kamen Geschichten, Musiken, Kulinariken aus China, Indien, Afrika und Europa. Quelle: „Heimat“ von Christan Schüle

Von Hans Klumbies