Sinnlichkeit ist der Anfang von Heimat

Die morgendliche Waschung ist mehr als eine lästige Verrichtung, bei der Wasser am Körper herabrinnt. Wilhelm Schmid erläutert: „Heimat ist dort, wo die Fülle des Sinns ist. Die Sinnlichkeit ist dafür der Anfang. Wer sich zerschlagen und niedergeschlagen fühlte, kehrt erhobenen Hauptes in die Welt zurück.“ Wer am Boden zerstört war, den durchpulst neue Lebenslust. Die eben noch schmerzenden Glieder erleben eine wundersame Verjüngung, jede Zelle wirkt wie neugeboren. Die Haut, die wie ein frisch gesprengter Rasen dufte, ruft erotische Anwandlungen wach. Nicht von ungefähr vermutete man in der Antike überall dort, wo Wasser sprudelte, Nymphen, denen Satyrn nachstellten. Die Dusche könnte der Brunnen sein, der die Fabelwesen birgt, das Badezimmer ein Tempel wohlgesinnter Götter. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

Die Geburt gleicht der Vertreibung aus dem Paradies

Und bei dem herabstürzenden Wasser könnte es sich um eine Taufe handeln, die einen Menschen für die Wirklichkeit des beginnenden Tages rüstet. Mit dem Reset wird die Existenz gemäß dem griechischen Ursprung des Wortes zu einem wahren „eksisto“. Man kommt aus dem Verborgenen und erhebt sich wie eine Stimme aus dem Schweigen. Vermutlich erinnert die Momentheimat in der Dusche an die eigentliche Herkunftsheimat, der jeder Mensch entstammt.

In der Gebärmutter erlebte er die vollständige Geborgenheit, umgeben von Wärme, ringsum glucksendes Wasser, gedämpfte Stimmen im Hintergrund. Wird alle Sehnsucht nach Heimat von der Erinnerung an diese Erfahrung gespeist? Geboren zu werden heißt, die paradiesische Welt selig schlummernder Möglichkeiten zu verlassen. Man muss in die kühle, nüchterne Welt der Wirklichkeit hinaus, weil der zeitliche Ablaufplan das so vorgibt. Das ist ganz wie unter der Dusche, wo ein ewiges Verweilen ebenfalls nicht vorgesehen ist.

Gewohnheiten und Rituale erleichtern Übergänge

Zwar wäre es wünschenswert, ewig drin zu bleiben, wie bei anderen orgiastischen Erlebnissen. Aber „shower forever“ liefe auf die totale Erschöpfung hinaus, wo es doch nur um relative Regeneration geht. Wilhelm Schmid erklärt: „Jeden Morgen zeigt sich aufs Neue, was bei der Geburt erstmals erfahren worden ist: Dass trotz aller Widrigkeiten der Welt da draußen eine Heimat in ihr möglich ist, sobald man die Angst vor dem Neuen und Fremden überwindet.“

Das Badezimmer ist ein Ort des Übergangs, zeitlich zwischen Tag und Nacht. Übergänge erweisen sich häufig als schwierig. Gewohnheiten und Rituale erleichtern sie, daher ist das Badezimmer voll davon. Ist hier etwas nicht am Platz, ist der Morgen schon verdorben. Das Leben braucht diesen minimalen Rahmen, in dem man es einrichten kann, vor allem so früh am Tag, wenn der Mensch noch nicht weiß, wohin mit sich. Niemand will frühmorgens darüber nachdenken, was zu tun ist, alle vertrauen sich lieber den gewohnten Abläufen an. Quelle: „Heimat finden“ von Wilhelm Schmid

Von Hans Klumbies