Oscar Wilde besaß einen ungewöhnlichen Widerspruchsgeist

Der irische Schriftsteller Oscar Wilde studierte am Trinity College in Dublin und machte dann Furore in London. Er beschäftigte sich als extravaganter Ästhet intensiv mit Kunst. Er begeisterte sich dabei für die Kunst um ihrer selbst willen und betrachte sie zudem als eine verstecke Form des politischen Radikalismus. Terry Eagleton weiß: „Oscar Wilde war Salonlöwe und Homosexueller, Angehöriger der Oberklasse und Underdog, angesehener Bürger und Freier von Strichjungen, schamloser Bon Viveur und, nach eigenen Bekunden, Sozialist. Genauso vertraut, wie er mit den Lady Bracknells umging, verkehrte er auch in aufständischen Kreisen und zählte Revolutionäre wie William Morris und Peter Kropotkin zu seinen Freunden. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Oscar Wilde verspottete die englischen Oberschichten

Oscar Wilde war ein begnadeter Rhetoriker, berühmt für seinen oratorischen Schwung, und als irischer Emigrant in England biss er am Ende in die Hand, die ihn fütterte. Als Ire verabscheute er auch den britischen Kolonialismus. Oscar Wilde verspottete außerdem ebenjene sehr englischen Oberschichten, bei denen er sich als eine Art Fünfte Kolonne eingeschmuggelt hatte. Die geistreiche Komödie, die er aufführte, war zugleich untadelig konservativ und versteckt subversiv. Er besaß einen ungewöhnlichen Widerspruchsgeist und die Überzeugung, Irland müsse über England herrschen und nicht umgekehrt.

Der irische Schriftsteller zeigte Mitgefühl für Arme und Besitzlose, vielleicht weil er sich selbst als Ausgestoßener empfand, wenn auch vom Glück deutlich begünstigter als ihre Schicksalsgenossen. Oscar Wild, der sich in London verlassen und diskriminiert fühlte, war eine höhere Version des Einwanderers, der im Straßen- oder Gleisbau arbeitete. Auf der London Bridge schenkte Oscar Wilde einmal einem Bettler einen Mantel. Die chronische Armut hatte die Einwanderer beider Kategorien zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen – die materielle Armut die Straßenbauer, die kulturelle den Schriftsteller.

Vorsicht hatte nie zu Oscar Wildes hervorstechenden Tugenden gehört

Der irische Denker glaubte an die konstitutive Bedeutung der Fiktion für die soziale Existenz. In London spielte Oscar Wilde die Rolle eines Hofnarrens des englischen Establishments. Doc einer dieser irischen Hofnarren – George Bernard Shaw – warnte zu Recht, dass es eine gefährliche Rolle sei. Man müsse sich hüten, größenwahnsinnig zu werden, damit einen die Einheimischen nicht gnadenlos auf ein normales Maß zurückstutzen. Aber Vorsicht hatte nie zu Oscar Wildes hervorstechenden Tugenden gehört.

Oscar Wilde wurde zuerst hofiert und bewundert, um dann als Immoralist gegeißelt und verstoßen zu werden. Dabei begriffen seine Verfolger nicht, dass der irische Schriftsteller nicht zuletzt deshalb schwul war, weil er Heterosexualität unerträglich abgeschmackt fand. Es entsprach seinem Wesen, dass er sich lieber auf eine Auseinandersetzung mit dem englischen Strafrecht einließ als auf ein Klischee. Eine Wahrheit in der Kunst, schrieb Oscar Wilde, sei eine Wahrheit, deren Gegenteil ebenfalls wahr sei, und fast das Gleiche lässt sich von seiner eigenen glänzenden und so jäh gescheiterten Karriere sagen. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies