In einer Epoche des Verlustes von Grenzen mag die Sehnsucht nach Identität vor allem ein Verlangen nach Leiblichkeit in einer Welt sein, die sich im Zuge der Globalisierung zugleich entleiblicht. Christian Schüle erläutert: „Heimat ist immer auch Raum-Philosophie – die Philosophie einer spürbaren, in ihren Grenzen erfahrbaren Identität. Die Klärung dessen, was unter zeitgemäßer Identität zu verstehen sein könnte, ist mittlerweile zu einem globalen Desiderat geworden.“ Was aber begründet nationale Identität? Sprache? Sitte? Tradition? Vermutlich von allem etwas. Die Meinungsforscher des amerikanischen Pew Research Centers bestätigen, dass 80 Prozent der 2016 von ihnen Befragten Europäer der Auffassung sind, nationale Identität erfordere die Kenntnis der Landessprache. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Neun von zehn Menschen identifizieren sich mit ihrem Staat
Die Hälfte meint, es sei unabdingbar, die jeweils nationalen Sitten und Traditionen zu teilen, 33 Prozent der Europäer sind offenbar der Auffassung, nationale Identität definiere sich über die Tatsache, im entsprechenden Land geboren zu sein, und 15 Prozent sind der Ansicht, es sei unabdingbar ein Christ zu sein. Andere weltweit durchgeführte Umfragen legen nahe, dass sich neun von zehn Menschen mit ihrem „Land“ und dem Staat, der ihnen einen Pass ausgestellt hat, identifizieren.
Der Ausweis ist tatsächlich eine „Identity Card“, die dokumentierte Identität von Staat und Mensch als Staatsbürger einer Nation. Christian Schüle definiert den Staat wie folgt: „Der Staat mit seinen – auf einem Boden oder auf einer Landkarte – festgeschriebenen Grenzen ist immer nur die katasteramtlich festgeschriebene Edition einer einmal willkürlich beschlossenen und vertraglich fixierten Zusammengehörigkeit auf einem abgegrenzten Territorium.“ Die Grenzen sind fast irrelevant, und doch ist die Aufteilung Europas in territorial definierte Nationalstaaten im politischen Denken eine unverrückbare Rationalität.
Die Angst vor dem Fremden ist ein Risikoparadox
Der Kulturtheoretiker Georg Simmel schrieb 1908 in seinen „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ folgendes: „Der Begriff der Grenze ist in allen Verhältnissen von Menschen untereinander äußerst wichtig. Die Grenze ist keine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine Tatsache, die sich räumlich formt.“ Georg Simmel fasste den Begriff der Grenze vornehmlich als soziale, ja seelische Definition von Raum und seiner Begrenzung auf.
Vermutlich lassen sich zehn Kulturfremde, gemessen auf 1.000 Einheimische, gut verkraften, 50 hingegen kaum noch, und wenn es über 100 geht, regiert der sogenannte Revier-Reflex und es bildet sich ein Geist des Widerstands und Kampfes aus. Die Angst vor dem Fremden ist geradezu ein Prototyp des „Risikoparadoxes“, dem zufolge marginale Gefahren überschätzt, wirkliche hingegen unterschätzt werden. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Krankheit zu sterben, an Nahrung zu ersticken oder vom Blitz erschlagen zu werden, ist nachweislich größer, als von Kulturfremdheit am Leben gehindert oder von einem „Ausländer“ um dasselbe gebracht zu werden. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle
Von Hans Klumbies