Die Globalisierung verdichtet Räume

In dem Maße, in dem sich die Welt durch Digitalisierung vergrößert, kehrt Heimat in den philosophischen und politischen Diskurs über die Frage nach Zugehörigkeit in Zeiten permanenter Migration. Christian Schüle stellt fest: „Globalisierung hat Räume vergrößert und zugleich verdichtet; je globalisierter die Welt gerät, desto kleingeistiger wird sie gedacht.“ Auffällig ist, dass kleine, relativ bevölkerungsarme, oft von vielen Anrainern umgebene Länder zu einer Inwendigkeit mit Außenverschluss neigen: die Schweiz, Österreich, Ungarn, Polen, die Slowakei – Länder, die man im Laufe der Menschheitsgeschichte oftmals überrollte und zur Disposition stellte. Durchgangsländer, deren Identität immer dem vorgegebenen Narrativ des Eroberers entsprach. Die Reaktionen auf den drohenden Verlust der Heimat verstärken sich in starkem Maße. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Selbsterhaltung begründet nicht Exklusivität

In Frankreich und den Niederlanden erstarken nationalistische – teils rassistische, teils rechtsradikale – Parteien wie der Front National und die „Partei für die Freiheit“. Deren Ziel besteht im Schutz des eigenen Raums durch Abwehr und Aggression gegen fremde Bedrohung. Die eigene Lebensweise wird als die maßgebliche überhöht, um Selbstwertstabilität konsolidieren zu können. Und in einer Randregion Deutschlands wie Sachsen ist überdurchschnittlicher weise ein regional-chauvinistischer Ethnozentrismus zu finden. Dieser stuft die eigene Gruppe höher ein als alle anderen, die von außen kommen.

Christian Schüle erläutert: „Die strukturelle, geradezu systemische Abwertung des anderen, ohne ihn persönlich zu kennen, durch Aufwertung des Eigenen führt zu einer Moral der Ausnahme, die sich über das Comme-il-faut der Mehrheitsgesellschaft erhebt.“ Aus dem Anspruch einer sozialen Gemeinschaft auf Exklusivität des Besitzes und Besiedlung eines begrenzten Erdbodens leitet sich nicht notwendig die Exklusion des Nicht-Inklusiven ab. Exklusivität begründet nicht Sorge um Selbsterhaltung, Selbsterhaltung nicht Exklusivität.

Die Angst vor dem Fremden ist ein genetisch bedingt

Die Ab- und Ausgrenzung des Fremden, um das Eigene zu retten und zu bewahren, stellt offenbar eine anthropologische Grundkonstante dar. Angst vor dem Fremden ist demnach ein genetisch disponiertes Verhalten. Es ähnelt dem Schutzmechanismus im Tierreich. Die Disposition ist aber keine Determination, will sagen: Eine genetisch präfigurierte Veranlagung kann durch Wissen, Wahrnehmung, Verstand, Vernunft, Erfahrung und Einfühlung gezähmt, verändert und ausgesetzt werden.

Christian Schüle weiß: „Der Fortschritt der Zivilisation besteht ja darin, aus der Beschränktheit der Verhaltensoptionen durch entweder Flucht oder Angriff auszusteigen und über Kulturalisation differenzierte Lebensweisen zu lernen und zu tradieren.“ Evolutionsbiologisch gesprochen ist die Neugier des Kindes die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung zum Erwachsenen. Übersetzt hieße das: Die kindliche Neugier auf das Fremde führt zu einem höheren Reifestatus. Mit dem Neuen kommt das Unberechenbare. Das könnte die eigene Ordnung infrage stellen. Dadurch reduziert man das Fremde auf Kategorien, um notfalls dagegen reagieren zu können. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies