Das Wort „Liebe“ kennt viele Bedeutungen

Für Robert Spaemann gibt es kein Wort – außer dem Wort „Freiheit“ vielleicht –, das ein solches Sammelsurium an Bedeutungen in sich vereinigt, und zwar von einander diamentral entgegengesetzten Bedeutungen, wie das Wort „Liebe“. Es bezeichnet Gefühle, die Eltern ihren Kindern, Kinder ihren Eltern, Freunde ihren Freunden entgegenbringen. Robert Spaemann ergänzt: „Aber auch und vor allem das berühmte und nie genug gerühmte Gefühl, das einen Mann und eine Frau miteinander verbindet und das in den heiligen Büchern der Juden und der Christen ebenso wie bei vielen Heiden als Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Gott und den Frommen dient.“ Und dann gibt es noch den Begriff der „Vaterlandsliebe“. Robert Spaemann lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Liebe kann zum krassesten Egoismus entarten

Niemand muss allerdings den Staat lieben, um seine Heimat und sein Vaterland zu lieben, und zwar bis zur Opferung des eigenen Lebens. Aber das Wort „Liebe“ benutzen die Menschen auch, um das pure sexuelle Begehren und dessen Befriedigung zu bezeichnen. Die Zweideutigkeit dieses Wortes wird laut Robert Spaemann hier am offenkundigsten. Denn der gleiche Akt der sexuellen Vereinigung kann als tiefster Ausdruck von Liebe erfahren werden und als pure Instrumentalisierung im Dienste des krassesten Egoismus.

Aber die Sache ist in Wirklichkeit noch weit subtiler. Robert Spaemann erläutert: „Auch das enthusiastische Gefühl der Liebe kann ein bloßes Mittel zur Steigerung des eigenen Lebensgefühls sein und der andere ein Mittel, dieses Gefühl zu erleben, geliebt also nur, solange diese Droge wirkt.“ Und wenn ein Treueversprechen dadurch gebrochen wird, absolviert die Intensität der neuen Liebe alles, was der alte Schlager sagt: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Auch hier muss Robert Spaemann die am Anfang gegebene Bezeichnung der Liebe als Gefühl in Frage stellen.

Die Liebe kann eine Täuschung sein

Einerseits schein sie ein Gefühl zu sein. Wenn eine Frau ihren Mann fragt, oder umgekehrt, ob er sie noch liebt, und er würde antworten, dass er sie liebt, aber dass er nichts für sie empfindet, dann würde die Frau – oder der Mann – das mit Recht sehr sonderbar finden. Dennoch – niemand würde sagen, er hätte heute Vormittag seine Frau nicht geliebt, weil er nämlich den ganzen Vormittag keine Zeit hatte, an sie zu denken. Der Liebende ist dadurch ein Liebender, dass er, wenn er an den geliebten Menschen denkt, mit dem Gefühl der Liebe an ihn denkt.

Daraus folgt, dass er gern an ihn denkt, und daraus folgt, dass er oft an ihn denkt und dass er gern in seiner Nähe ist. Wissen allerdings liegt nur dann vor, wenn die Dinge tatsächlich so sind, wie man denkt, dass sie sind. Mit der Liebe verhält es sich anders. Man kann mich zwar auch hier täuschen. Man kann glauben, zu lieben, während man tatsächlich nicht liebt. Aber diese Täuschung ist nicht eine Täuschung über die Tatsachen der Welt, sondern über das eigene Selbst. Was das Wort „erkennen“ meint, scheint nur durch die Liebe eingelöst zu werden. Quelle: „Antinomien der Liebe“ von Robert Spaemann, erschienen im Reclam-Heft „Was ist Liebe?“

Von Hans Klumbies

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