Reinhard Haller erkennt in der Kränkung eine Interaktion

Eine Kränkung wird keinesfalls nur über deren Art und Inhalt bestimmt, sondern hängt ebenso ab von der Person des Kränkenden und der Sensibilität des potenziell Gekränkten. Reinhard Haller erläutert: „Kränkungen sind mehr als eine gerichtete Aggression auf der einen und mehr als eine erlittene Verletzung auf der anderen Seite. Nie kann man sie eindimensional verstehen.“ Kränkungen sind nicht nur schmerzliche Emotionen oder negative Affekte, sondern Störungen des Gefühlserlebens und des Gefühlsausdrucks zugleich, ja noch mehr als beides zusammen. Kränkungen bilden intra- und interindividuelle Vorgänge, allgegenwärtige soziale Mechanismen, sie stellen zwischenmenschliche Interaktion dar. In jeder Kränkung findet ein Prozess statt zwischen jemandem, der kränkt, und jemand anderem, der gekränkt wird. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

Der emotionale Hintergrund bestimmt die Wirkung einer Kränkung

Zwischen diesen beiden Polen steht die eigentliche Kränkung, die Reinhard Haller der Einfachheit halber „Kränkungsbotschaft“ nennt. Immer hat man es bei Kränkungen mit einem höchst diffizilen Zusammenspiel zwischen einem Absender der Kränkung, einem Empfänger der Kränkung und der eigentlichen Kränkung mit ihrem Inhalt beziehungsweise ihrer Botschaft zu tun. Alle drei Pole sind sehr unterschiedlich und individuell gestaltet. Es kommt somit stets auf die Kränkungsart und genauso auf den Wert an, den der Kränkende für den Gekränkten hat, sowie auf die sensiblen Stellen des Empfängers der Kränkung.

Ganz wesentlich wird die Wirkung vom emotionalen Hintergrund bestimmt, vor dem sich der Prozess der Kränkung abspielt. Versucht man Kränkungen zu analysieren, geht es deshalb nicht nur um die Erfassung isolierter Gefühle oder die Bestimmung von Art und Stärke bestimmter Emotionen sowie Affekte, sondern immer um die gesamthafte Beurteilung der Situation der Kränkung. Dies ist auch für den Umgang mit Kränkungen ganz wichtig. Der zwischen dem Absender der Kränkung, der Botschaft der Kränkung und dem Adressaten der Kränkung ablaufende Prozess ist das Entscheidende.

Niemand ist gegen Kränkungen resistent

Kein gesunder Mensch ist „unkränkbar“, keine normale Persönlichkeit ist gegen Kränkungen resistent. Höchst unterschiedlich ist jedoch die Verletzbarkeit, die Anfälligkeit für Kränkungen, die eigentliche Kränkbarkeit. Diese wird bestimmt durch die psychische Konstitution und die aktuelle Verfassung, durch Vorerfahrungen, frühere Traumatisierungen, durch innere Einstellungen und äußere Umstände, durch Geschlecht, Alter und soziales Umfeld, durch die Stimmung und vieles andere mehr.

Typische Faktoren der Verletzlichkeit sind Geburtsschäden und Defizite in der Entwicklung, schwierige Merkmale des Temperaments, chronische Krankheiten und Belastungen, andauernde Spannungen, permanente Sorgen oder unsichere Bindungen sowie geringe Fähigkeiten zur Selbstregulation. Hingegen sind Menschen mit hohem Selbstbewusstsein und gesundem Stolz viel weniger kränkbar. Der Stolz ist etwa das Gegenteil von Gekränktheit, nicht umsonst spricht man bei Ehrbeleidigungen von „verletztem Stolz“. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller

Von Hans Klumbies