Die Meinungs- und Redefreiheit sind der „Lebenssaft“ der Demokratie

Auf der einen Seite gibt es für Timothy Garton Ash tatsächliche eine Explosion der Hassrede im weitesten Sinn; das meiste davon kann seiner Meinung nach getrost ignorieren. Auf der anderen Seite besteht die pathologische Bereitschaft, sich sofort verletzt zu fühlen, schon bei der allerkleinsten Kränkung. Timothy Garton Ash stellt fest: „Das ist eine Infantilisierung des öffentlichen Diskurses, die ich leider bei meinen Studenten in Oxford und Stanford beobachten kann. Die Universitäten sollten Tempel der Redefreiheit sein, in denen alles, auch die anstößigste Meinung, auf zivilisierte Weise diskutiert werden kann.“ Selbst anstößige Geschichten sind kein Grund, jemanden von der öffentlichen Debatte auszuschließen. Es gibt verschiedene Hypothesen, die sich allerdings teilweise widersprechen, woher die Überempfindlichkeit vieler Menschen in liberalen Gesellschaften kommt. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

Timothy Garton Ash fordert einen länderübergreifenden Konsens für den gewaltfreien Dialog

Eine Theorie besagt, die junge Generation sei derart überbehütet aufgewachsen, dass sie nicht reif und stark genug ist, solchen Herausforderungen entgegenzutreten. Eine andere meint, die Jungen suchten Geborgenheit im geschützten Raum der Universitäten, gerade weil sie draußen mit so viel Grobheit, Hass und Beschimpfung konfrontiert werden. Timothy Garton Ash stellt noch eine dritte Theorie vor: „Die Jugend lehnt sich gegen die hegemoniale Ideologie des Liberalismus auf, dessen Grundlagen Toleranz und Respekt vor der Meinungsfreiheit sind.“

Timothy Garton Ash fährt fort: „Sie treibt den Respekt vor dem anderen auf die Spitze und wendet dadurch die Toleranz ins Gegenteil. Aber keine dieser Hypothesen finde ich ganz einleuchtend.“ Timothy Garton Ash geht es unter anderem darum herauszufinden, was Staats- und Netzbürger, als legitime Grenzen anerkennen sollten, und zwar international über alle kulturellen Gräben und Differenzen hinweg. Timothy Garton Ash fordert: „Wir müssen versuchen, einen normativen, Länder und Kulturen übergreifenden Konsens für den gewaltfreien Dialog zu finden.“

Es findet gerade eine Konterrevolution gegen die Ausbreitung des Liberalismus statt

Das Ziel besteht seiner Meinung nicht darin, dass man sich über alles einig ist, sondern dass man sich darüber einig ist, wie man miteinander streitet. Neben der Rasse und dem Geschlecht zählt die Religion zu den stärksten Tabus. Für den Gläubigen ist seine Religion zweifellos Teil seiner Identität. Aber wenn die die Glaubensinhalten nicht infrage stellen darf, verspielt man das hart erkämpfte Erbe der Aufklärung. Deshalb lautet das Prinzip von Timothy Garton Ash zur Frage der Religion: „Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte.“

Die Meinungs- und Redefreiheit sind für Timothy Garton Ash der „Lebenssaft“ der Demokratie. In einer merkwürdigen Bewusstseinslage der postfaktischen Gesellschaft wird das, was gefühlt wird, wichtiger als das, was gewusst wird. Dann siegt die Lüge, dominiert die ständige Wiederholung des Gleichen statt des diskursiven Elements der Rede. Der Populismus hat ökonomische, soziale und kulturelle Wurzeln. Die Verlierer melden sich zu Wort. Die Welt erlebt gerade eine Konterrevolution gegen die Ausbreitung des Liberalismus. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies