Es gibt nicht die eine deutsche Geschichte

Helmut Walser Smith beschreibt in seinem neuen Buch „Deutschland“ die Geschichte der deutschen Nation von 1500 bis in die Gegenwart. Dabei hält er die Idee des Nationalstaats und die Ideologie des Nationalismus hellsichtig auseinander. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeit stoßen in seinem Werk hart aufeinander. Die nationalistischen Exzesse des Dritten Reichs im 20. Jahrhundert schildert Helmut Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos. Seine klugen Gedanken über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit reichen bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist das Buch eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

Der deutsche Nationalismus begann relativ spät

Die Kernthese des Buchs von Helmut Walser Smith lautet, dass die deutsche Nation über fünf Jahrhunderte hinweg auf radikal unterschiedliche Art verstanden, dargestellt und erlebt wurde. Er vertritt die Ansicht, dass Nationen wie viele geschichtliche Phänomene weder zeitlose Wahrheiten noch willkürliche historische Erfindungen sind. Vielmehr sind sie zu verschiedenen Zeiten aus ganz unterschiedliche Weise real oder wahr. Dabei gab es nie eine transhistorische Vorstellung der deutschen Nation. Es gab immer nur eine Nation in ihrer Zeit.

Der deutsche Nationalismus bezog sich stets auf diese sich verändernden Konstellationen, war aber nicht die Sache selbst. Chronologisch betrachtet begann der deutsche Nationalismus erst relativ spät. Er kristallisierte sich in eindeutiger Form erstmals nach der Französischen Revolution heraus. Er war eine explizit politische Ideologie, die das Individuum und das Land als Einheit betrachtete und der Ansicht war, Bindungen an die Nation sollten über allen anderen Loyalitäten stehen. Im 20. Jahrhundert, in seiner radikalsten Form, sorgte der deutsche Nationalismus für Zusammenhalt unter den Deutschen, indem er die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung anderer propagierte und betrieb.

Der Frieden war den Deutschen über lange Zeiten wichtig

Ganz im Gegensatz zu einer beliebten Deutungstradition behauptet dieses Buch, dass deutsche Nationalisten die deutsche Nation nicht hervorbrachten oder erfanden. Die zweite zentrale These bezieht sich auf die Balance zwischen Krieg und Frieden in der langen Dauer deutscher Vergangenheit. Über weite Strecken betrachten die Deutschen ihr Land als im Grunde friedlich. Ihre Nachbarn waren oftmals der gleichen Ansicht. Der Frieden war im absoluten wie im relativen Sinne für den langen historischen Bogen der deutschen Nation genauso wichtig wie der Krieg.

Die Gegenwart hat mit dem Erfolg der Populisten ein finsteres Gesicht aus Vorurteilen und Gewalt sichtbar werden lassen. Für Ausländer sind die deutschen Straßen teilweise unsicher geworden. Zuwanderer werden regelmäßig verhöhnt und beschimpft. Und den öffentlichen Diskurs prägen heute zunehmend Vorurteile gegenüber Außenseitern. Im Epilog schreibt Helmut Walser Smith: „Ob der Nationalismus wieder zum bestimmenden Merkmal der Zeit wird und nicht nur eine von Vielen Reaktionen auf politische Entwicklungen, ist natürlich eine Frage, welche die Deutschen letztlich für sich selbst beantworten müssen.“

Deutschland
Geschichte einer Nation
Von 1500 bis zur Gegenwart
Verlag: C. H. Beck
Gebundene Ausgabe: 667 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-406-77415-7, 34,00 Euro

Von Hans Klumbies