Die homogene Gesellschaft ist eine Illusion

Die Deutschen leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Das ist nicht nur ein relativ neues Faktum. Das ist auch ein unhintergehbares Faktum: Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-pluralisiert, in eine homogene Gesellschaft. Isolde Charim erklärt: „Um die Reichweite und das ganze Ausmaß der Neuheit zu ermessen, muss man sich den „prä-pluralen“ Gesellschaften, also den Gesellschaften Westeuropas vor ihrer Pluralisierung zuwenden.“ Denn diese geben das Vergleichsmodell ab. Diese homogenen Gesellschaften, also diese Gesellschaften einer relativen ethischen, religiösen und kulturellen Einheitlichkeit sind gewissermaßen die Negativfolie. Der Hintergrund, von dem sich die heutige, pluralisierte Gesellschaft abhebt. Diese homogenen Gesellschaften waren nicht einfach da. Sie sind nicht einfach gewachsen, sozusagen natürlich. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Vielfalt wird durch Vereinheitlichung ersetzt

Sie mussten vielmehr erst hergestellt werden, wozu es vieler politischer Eingriffe bedurft hat, die oftmals brutal und repressiv waren. Homogene Gesellschaften sind also das Resultat von bewusstem politischem Handeln. Ein anderes Wort für diesen Vorgang lautet: Nationenbildung. Die Bildung der Nationen war eine künstliche Vereinheitlichung, die erst durchgesetzt werden musste – durchgesetzt gegen eine vorhandene Vielfalt. Dazu bedurfte es eines massiven Vorgehens auf vielen Ebenen und unterschiedlichen Bereichen: Es brauchte eine materielle, eine emotionale und eine kulturelle Vereinheitlichung.

Isolde Charim nennt ein Beispiel: „Nehmen wir etwa die Sprache. Was für ein langwieriger Vorgang war es, all die regionalen Sprachen, all die Dialekte einzuhegen oder auszugrenzen, um eine einheitliche Hochsprache als Landesprache durchzusetzen.“ Eine homogene Gesellschaft braucht nicht nur eine sprachliche und materielle Vereinheitlichung. Sie muss auch emotional in Einklang gebracht werden. Die Einheit einer Gesellschaft muss auch in den Gefühlen einen Anker finden. Ein ganzes Set an Akteuren – von der Literatur über die Musik, die Bildung bis hin zu den Schulen haben daran mitgewirkt.

Gefühle verwandeln Orte zu Symbolen

Etwa indem sie eine zentrale Kategorie der Nation aufgeladen haben: das Territorium. Dazu wurden Orte, Orte wie Grenzen, Landschaften, Städte, Flüsse emotional besetzt. Die emotionale Imagination der Nation vollzieht sich also – auch – im Medium der Territorialisierung nationaler Emotionen, der Rückbindung von Gefühlen an den Raum. Dies vollzieht sich mittels vieler ganz konkreter Praktiken. Natürlich in den Schulen, aber auch bei ganz banalen Alltäglichkeiten – etwa beim Wetterbericht, wo die Umrisse, also die Grenzen des Territoriums eingeprägt und als ein kompakter, eigener (Wetter-) Raum vermittelt werden.

Erst wenn es gelingt, die Gefühle mit der Geographie zu verbinden, sind Orte nicht mehr irgendwelche Orte. Erst dann entwickeln sie sich zu Symbolen. Isolde Charim stellt fest: „Die Nationenbildung hat also das Staatsgebiet verdoppelt: Sie hat dem materiellen ein symbolisches Territorium hinzugefügt, um es zu jenem Gebiet zu machen, an das die Gefühle andocken konnten.“ Fest steht auch: Die Einheitlichkeit der Gesellschaft bleibt immer bis zu einem gewissen Grad eine Fiktion. Eine Fiktion, die durch massive politische Eingriffe immer wieder hergestellt werden musste. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies