Der Wert einer Gesellschaft wird unterschiedlich beurteilt

Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: Worin besteht der Wert einer Gesellschaft beziehungsweise einer Nation? Die Anhänger eines Weltbildes, das sich primär an sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit orientiert, würden sagen: Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich, welches Leben sie den Schwächsten ihrer Mitglieder ermöglicht. Thea Dorn fügt hinzu: „Anhänger eines Weltbildes, das Exzellenz im Blick hat, würden sagen. Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich in erster Linie an ihren Leistungen auf den verschiedensten Gebieten – in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Technik, in der Wirtschaft, im Sport.“ Man kann auch sagen, dass eine Gesellschaft, die das Streben nach Exzellenz aufgibt, sich der Schafherde annähert, die Immanuel Kant beschreibt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Zwischen rivalisierenden Weltbildern kommt es zu Konflikten

Eine Gesellschaft, die sich nur an den Starken orientiert, läuft allerdings auch Gefahr, kaltherzig zu werden und zu verrohen. Am seriösesten geht man mit dem Konflikt zwischen diesen rivalisierenden Weltbildern um, wenn man ihn in aller Klarheit erkennt und austrägt und wenn man sich vergegenwärtigt, dass er bis in die Anfänge der westlichen Wertvorstellungen zurückreicht. So sind und waren etwa im Christentum beide Strömungen massiv vorhanden.

Die eine Richtung wurde vorgegeben durch die Seligpreisungen all der Menschen, die „geistig arm“ sind, die „Leid tragen“, die „sanftmütig“ sind, die „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“, die „barmherzig“ und „reinen Herzens“ sind, die „Frieden stiften“, die „um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“. In seiner Bergpredigt – und nicht nur dort – lässt Jesus keinen Zweifel daran, wem sein Herz und angeblich auch das Himmelreich gehören: den Schwachen und all denjenigen, die sich bemühen, Schwachen zu helfen.

Moralische Werte vermindern den vielfältigen Reichtum der Welt

Die andere Strömung versammelte sich innerhalb des Christentums unter dem Wahlspruch: „Ad maiorem Dei gloriam“. Die Überzeugung, mit dem eigenen weltlichen Tun zur „größeren Ehre Gottes“ beizutragen, teilten nicht nur die Jesuiten – sie spornte auch alle Baumeister, Künstler, Philosophen und Musiker christlichen Glaubens zu Höchstleistungen an. Wäre das Christentum nur das Christentum der Bergpredigt geblieben, stünde in Rom kein Petersdom, hätte Michelangelo womöglich nie zu Pinsel und Meisel gegriffen, hätte Thomas von Aquin keine vieltausendseitige „Summa Theologiae“ und hätte selbst der Erzprotestant Johann Sebastian Bach einfach nur Orgel gespielt, anstatt ein gewaltiges kompositorisches Werk zu schaffen.

Thea Dorn gibt zu bedenken: „Diesen Widerstreit innerhalb des christlichen Weltbildes sollten all jene nicht aus dem Gedächtnis verlieren, die auch heute das christliche Gebot der Nächstenliebe beherzigen, indem sie sich selbst bemühen, das Elend dieser Welt zu lindern, wo sie nur können – und diese Haltung auch von anderen verlangen.“ Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat darauf hingewiesen, dass man den vielfältigen Reichtum der Welt vermindert, wenn man moralische Werte stets zu den ausschlaggebenden macht. Der Philosoph spricht von einer „Fragmentation of Value“, plädiert dafür, anzuerkennen, dass der Wertehimmel kein einfacher ist, sondern ein mannigfacher, und dass es zwischen den unterschiedlichen Werten stets zu Konflikten, bisweilen auch zu tragischen, kommen kann. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies