Der zentrale Wunsch des zweiten Individualismus ist es, sich nicht zu verändern, sondern sich nur zu bestätigen. Der erste Individualismus hat den Großverbänden zugesprochen, die Individuen zu transformieren. Isolde Charim erläutert: „Der Einzelne trat etwa einer Partei bei, die ihn verwandelte zu einem Parteimitglied oder zu einem Parteigenossen machte. Assoziation, Verband bedeutete damit auch: Veränderung des Individuums.“ Und das ist ein grundlegender Unterschied zum zweiten Individualismus. Geht es bei diesem doch darum, sich eben nicht zu verändern. Denn im Zeitalter des Authentizität geht es nicht nur darum, einen eigenen Weg zu wählen – eine eigene Kirche, eine eigene Partei oder sonst eine eigene Gruppierung –, sondern auch darum, dass diese „mich ansprechen“ muss. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.
Parteien können Lebensformen nicht mehr verordnen
Isolde Charim ergänzt: „Sie muss mich ansprechen als der, der ich bin. Veränderung ist da nicht vorgesehen.“ Die flexible Identität ist zugleich ein, die sich nicht verändert. Sie kämpft darum, gerade als das, was sie ist, anerkannt zu werden. Als solche tritt sie in die politische Arena ein. Deshalb können Parteien Lebensformen nicht mehr verordnen. Deshalb wurden Großgruppen wie etwa Volksparteien im neuen Individualismus durch kleinere identitäre Gruppen und Einheiten abgelöst. Diese erfüllen genau dieses Moment der gegenseitigen Bestätigung ohne Veränderung.
Eine weitere Besonderheit des zweiten Individualismus und seiner Identitätspolitiken besteht in den identitären Folgen dieses veränderte Settings. In den Großgruppen bestand das Selbstverständnis des Einzelnen darin, Teil der Gruppe zu sein. Sein Selbstverständnis war also Folge seiner Zugehörigkeit. Hier bezog man sich auf Gleiche, auf Ähnliche: auf Parteigenossen oder auf Kompatrioten. Natürlich gehörten da Gegnerschaften und Feindschaften dazu.
Der zweite Individualismus wird als Raum der Differenz bestimmt
Es gab allerdings eine Identitätsbildung als Gleiche im öffentlichen Raum. Volkspartei hieß ja ebenso wie Nation die Bereitstellung von Typen, von kollektiven Identitätsmerkmalen, die es heterogenen Individuen erlaubten, sich als Ähnliche und damit als Gleiche zu identifizieren. In den identitätspolitisch geprägten Arenen hingegen geht es nicht mehr um Gleichheit, sondern um Differenz, um Unterschiede. Jenseits der eigenen Community tritt man in den öffentlichen Raum, um sich als anders, als different zu bestimmen.
Isolde Charim erklärt: „War die Öffentlichkeit des ersten Individualismus ein Raum der Gleichen, so wurden die Arenen des zweiten Individualismus als Raum der Differenz bestimmt. Wobei man nicht übersehen darf, was Differenz in dem Zusammenhang bedeutet: Es ist die Behauptung der eigenen Identität ohne Anpassung, ohne Einordnung.“ Differenz ist also Bestätigung des Eigenen. Identitätspolitik war und ist der Versuch, den Unterschied zwischen öffentlicher und privater Person, zwischen Bürger und Staatsbürger, einzuziehen. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim
Von Hans Klumbies