Die Neubildung der deutschen Nation – und darum ging es ja bei und nach der Wiedervereinigung von 1990 – schien gelungen. Deutschland war ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, da in vielfältige supranationale Strukturen und Gebilde eingebunden. Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und begriffen, dass sie nach zwei Weltkriegen und ungeheuerlichen Verbrechen eine unverhoffte zweite Chance erhielten, wie sie im Leben nur selten vorkommt. Edgar Wolfrum erinnert sich: „Der äußeren Einheit würde rasch die innere Einheit folgen. „Blühende Landschaften“ wurde versprochen. Das war die erste Täuschung.“ Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft verlief nicht reibungslos. Zwischen West und Ost tat sich ein großer Graben auf, die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden massiv unterschätzt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.
Ein brutaler internationaler Terrorismus kam auf
Vielerorts auf der Welt, von Europa bis Südamerika, hatten demokratische Bewegungen gesiegt und kommunistische Regimes sowie Militärdiktaturen zum Einsturz gebracht. Demokratie und Bürgerrechte schienen kraftvoll und unschlagbar, autoritäre Systeme der Vergangenheit anzugehören. Dies war die zweite Täuschung. In vielen Staaten und Gesellschaften, selbst in Europa un den USA, gab es nach dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen Rückwärtsdrall der Demokratie.
Vielleicht handelte es sich dabei sogar um eine historische Schubumkehr, eine Art populistische Revolte. An dieser Entwicklung war auch Deutschland beteiligt. Die Geschichte, so ließen sich 1989/90 viele einreden, sei an ihr Ende gelangt. Der liberale Kapitalismus habe weltweit gesiegt. Es würde sich nun eine lange friedliche Ära, ein neues goldenes Zeitalter fortwährender Glückseligkeit ausbreiten. Dies war die dritte Täuschung. Neue Kriege, auch vor der Tür der EU, in Südosteuropa, und ein brutaler internationaler Terrorismus kamen auf.
Die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefte sich
Die Sicherheitslage war sogar kritischer als zu Zeiten des Kalten Krieges. Zudem vertiefte sich die Kluft zwischen Arm und Reich und der Hunger wurde nicht besiegt. Bei der Bekämpfung des Klimawandels trat man bestenfalls auf der Stelle. Es kamen noch weitere Täuschungen auf nationaler wie internationaler Ebene hinzu. Sämtliche dieser Annahmen und Trugbilder betrafen auch die Bundesrepublik Deutschland. Denn Deutschland war seit der Wiedervereinigung ein globaler Faktor.
Eine Studie der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit mit dem Titel „Deutschland in den Augen der Welt“ legte 2015 folgende Quintessenz vor: „Man wünscht sich Deutschland als starken Player im globalen Machtgefüge, sieht Fortschritte beim Ausfüllen dieser Rolle, glaubt jedoch weiter an ein nicht ausgeschöpftes Potenzial. Das Neue an der aktuellen Befragung: Eine Dominanz Deutschlands ist für viele Beobachter, zumindest auf Europa bezogen, heute bereits eine Realität.“ Quelle: „Der Aufsteiger“ von Edgar Wolfrum
Von Hans Klumbies