So sah Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus

Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die deutschen Städte in Trümmern. Ihre historischen und industriellen Zentren waren bis zu 80, 90 Prozent zerbombt. Josef Joffe ergänzt: „Total war die moralische Zerstörung nach dem Vernichtungskrieg gegen Juden und andere „Untermenschen“. Die „Stunde null“ wurde zum geflügelten Wort.“ Vor den Deutschen lagen Ächtung und Vergeltung, so weit das Auge reichte. Selbst ein freundlicher Beobachter wie der amerikanischen Deutschland-Historiker Fritz Stern erinnert sich an sein Gefühl des „Misstrauens und der Abscheu“. Doch den Westdeutschen sollte ein dreifaches Glück zuteilwerden. Einmal in der Gestalt von Konrad Adenauer, der 1949 im Bundestag mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt wurde – seiner eigenen. Sein Widersacher, der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, stand für einen national-neutralistischen Kurs kontra Westbindung und Integration. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.

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Eine Kultur lässt sich nie vollständig beschreiben

Die Aufgabe der Intellektuellen besteht darin, dem kollektiven Denken der Menschen einen besonders klaren Ausdruck zu verleihen – und das nicht nur zu ihrem privaten Vergnügen. Beispielsweise sah W. B. Yeats die Aufgabe seiner Dichtkunst darin, den Mythen und Archetypen der irischen Landarbeiter eine Stimme zu geben. Genauso wie in „Das wüste Land“ nicht T. S. Eliot spricht, sondern das, was er selbst ziemlich vollmundig den europäischen Geist nannte, so sieht sich W. B. Yeats einfach als Medium – fast im spiritistischen Sinne – für die zeitlose Weisheit des Volkes. Terry Eagleton nennt ein weiteres Beispiel: „Nach Martin Heideggers etwas düsterer Sichtweise besteht die Aufgabe des Dichters darin, dem Schicksal der Nation seine Sprache zu schenken. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Multikulti versus Monokulti spaltet Deutschland

Als der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi 1998 den Begriff „Leitkultur“ ins öffentliche Gespräch brachte, ging das intellektuelle Ringen um das Selbstverständnis einer erwachsen gewordenen Nation nach dem Historikerstreit Mitte der 80er- Jahre in eine neue Runde. Christian Schüle erläutert: „Bassam Tibi hatte versucht, mit Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft eine kollektive Identität europäischer Nationen zu begründen.“ Zwei Jahre später nationalisierte Friedrich Merz, der damalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, den so eingeführten Begriff mit dem Satz, Migranten hätten sich einer „gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur“ anzupassen – was gewiss als Gegenentwurf einer multikulturellen Gesellschaft zu verstehen war. Eine heftige Debatte folgte, Publizisten, Herausgeber, Juristen und Politiker ergriffen das Wort, und die Grünen konterten Merz` Forderungen mit dem Vorwurf, von nun an sei ein „Feuerwerk des Rassismus“ aus der Union zu befürchten. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Deutschland steigt vom Paria zur moralischen Supermacht auf

Deutschland hat nach den Verbrechen und dem totalen Bankrott des Dritten Reiches eine erstaunliche Karriere gemacht. Josef Joffe beschreibt in seinem neuen Buch „Der gute Deutsche“ wie es Deutschland gelang, vom schuldbeladenen Paria zur moralischen Supermacht aufzusteigen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Land der Aussätzige der Welt. Heute ist die Zweite Republik das beste Deutschland, das es je gab: liberal, stabil, sozial. Josef Joffe zeichnet die Entwicklung der Bundesrepublik als Bildungsroman, der dem klassischen Dreisprung gehorcht: die Not der Jugendjahre, die Prüfungen der Wanderjahre, Läuterung und Reifung im Erwachsenenalter. Unterwerfung, Besatzung und Zerstückelung prägten die Jahre der Not. Zu den Prüfungen zählen unter anderem die hart umkämpfte Wiederbewaffnung un die Westbindung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.

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Deutschsein hat etwas mit Herkunft und Tradition zu tun

Deutschsein ist mehr als nur formelle Staatsbürgerschaft. Sogar Anhänger der Grünen sind offensichtlich mehrheitlich der Meinung, es gebe so etwas wie einen Nationalcharakter. Christian Schüle fügt hinzu: „Der Begriff Nationalcharakter hat als vermeintlich veraltetes Konzept keinesfalls ausgedient und wird mitnichten von der nachwachsenden Generation als überwunden erachtet.“ Drei Viertel der Deutschen finden, dass deutsche Kultur „Leitkultur“ für die in Deutschland lebenden Ausländer sein sollte; und gut die Hälfte der Deutschen meint, dass Deutschsein mit Herkunft und Tradition zu tun habe. Das heißt: Politik muss sich an der Wirklichkeit orientieren, und dazu gehört, dass mindestens eine relative Mehrheit der Bevölkerung ihre eigene Nationalität auch über eine in Jahrhunderten gewachsene Kulturtradition und eine gemeinsame Herkunft definiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die homogene Gesellschaft ist eine Illusion

Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede gibt. Homogen ist sie, wenn man ihr voll und ganz angehören kann. Wenn man sich dieser Illusion hingeben kann. Isolde Charim erläutert: „Denn das ist das Versprechen der homogenen Gesellschaft: Sie versorgt uns mit einer herausragenden Bestimmung, einer Bestimmung, die uns vereinheitlicht, die uns „ganz“ macht, die uns mit einer vollen Identität versieht – auch wenn dies im Freud`schen Sinne immer eine Illusion bleibt.“ Und genau das ist der Punkt, an dem sich der Unterschied zur heutigen Gesellschaft ablesen lässt. Genau das ist der Hintergrund, von dem sich eine pluralistische Gesellschaft abhebt. Die Folie, an der man die Differenzen zur heutigen multikulturellen Gesellschaft ablesen kann. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Moderne erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft

In seinem neuen Buch „Traurige Moderne“ erkennt Emmanuel Todd in den Familienstrukturen den unbewussten Motor der Geschichte. Von dieser Beurteilung aus erzählt er die Geschichte der Menschheit neu: Vom frühen Homo sapiens, der in Kleinfamilien lebte, über die großen Kulturen des Altertums mit ihren immer komplexeren Großfamilien bis zur Rückkehr des Homo americanus zur Kernfamilie der Steinzeit. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten der Menschen zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Johann Gottfried Herder prägte die europäische Ideengeschichte

Terry Eagleton ist davon überzeugt, dass der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder ein Autor war, dessen Bedeutung für die Ideengeschichte kaum zu überschätzen ist: „Er war einer der erste historistischen Denker mit einem wachen Sinn für die geschichtliche Bedingtheit von Kulturen, Texten, Ereignissen und Individuen. Man hat diesen Ansatz als eine der großen intellektuellen Umwälzungen des europäischen Denkens bezeichnet.“ Darüber hinaus wurde er als Vater des modernen Nationalismus gepriesen und sogar gerühmt, den Begriff der Kultur als umfassende Lebensweise in das europäische Denken eingeführt zu haben. Und als ob das noch nicht alles eindrucksvoll genug wäre, war Johann Gottfried Herder auch einer der Begründer der modernen Literaturtheorie sowie einer der ersten Denker, der die Bedeutung der Populärkultur für das soziale Leben erkannte. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Eine homogene Gesellschaft garantiert Identität und Zugehörigkeit

Homogenität einer Gesellschaft bedeutet nicht einfach Vereinheitlichung. Isolde Charim erläutert: „Homogenität einer Gesellschaft bedeutet vielmehr die Sekundarisierung der Unterschiede. Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede mehr gibt. Homogen ist eine Gesellschaft, wenn die Unterschiede zweitrangig werden – angesichts des Gemeinsamen.“ Dieses Gemeinsame, das der nationale Typus bereitstellt, beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit: In dessen Gestalt können sich alle Mitglieder der Nation wiedererkennen. Die „imagined community“ ist eine Gemeinschaft der Ähnlichen. In diesem Sinne war die Nation der Versuch, die Gemeinschaft unter den Bedingungen der Moderne in die Gesellschaft einzuführen – eine vorgestellte Gemeinschaft, die suggeriert, einander völlig Unbekannte würden einen Verbund von Gleichen, von Ähnlichen bilden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung

Die kämpferische Verschärfung der Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung. Christian Schüle weiß: „Ihre quasi heilige Berufung auf eine glorreiche Vergangenheit ist allen sezessionistischen und separatistischen Gruppierungen eigen.“ Fast immer sind ihre Argumente zugleich ökonomischer und ökologischer Natur: Wohlhabende Regionen grenzen sich gegen jene ab, die ihren Wohlstand von außen bedrohen und ihre Regionen einwandern, weil aus separatistischer Sicht Wohlstand und Region Synonyme sind. Einer politischen Abgrenzung entspricht als typische Geisteshaltung der Separatismus, vielfach zu studieren an Unabhängigkeitsgelüsten in Norditalien, im Baskenland, in Katalonien, in Schottland und in der Ost-Ukraine. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der heilen Welt der unverdorbenen, autarken, autonomen Heimat, bringt die Selbstbestimmung der regionalen Bürger in Stellung gegen die Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den „Suprastaat“ der Europäischen Union. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Themen Heimat und Leitkultur darf man nicht den Rechten überlassen

Thea Dorn plädiert in ihrem neuen Buch „deutsch, nicht dumpf“ dafür, die Themen Heimat, Leitkultur und Nation nicht den Rechten zu überlassen. Und sie klärt ihre Leser darüber auf, ob sie ihr Land lieben und es sogar Heimat nennen dürfen. Die Autorin wendet sich den politischen Schicksalsfragen Deutschlands zu und will wissen, ob die Rede von Heimat und Verwurzelung oder gar Patriotismus ein rückwärtsgewandtes, engstirniges Denken befördert, das über kurz oder lang zu neuem Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus führen wird. Oder ist es nicht eher so, dass das Beharren auf den eigenen kulturellen, historisch gewachsenen Besonderheiten in Zeiten von Migration, Globalisierung und Technokratisierung nicht Grundbedingung dafür ist, jene weltoffene Liberalität und Zivilität zu wahren, zu der das heutige Deutschland inzwischen längst gefunden hat. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Bewegung des Individualismus entstand bereits um 1800

Isolde Charim stellt fest, dass die Individualisierung nicht erst mit den modernen Gesellschaften des Westens aufkommt, sondern eine viel ältere Bewegung ist, die bereits um 1800 herum entstand: „In dieser Bewegung, die man als das erste Zeitalter des Individualismus bezeichnen könnte, tritt der Einzelne aus seinem vorgegebenen Zusammenhängen heraus.“ Dieser erste, aus der heutigen Perspektive der „alte“ Individualismus hat den Einzelnen aus den Festschreibungen der Ständegesellschaft befreit. Es hört sich widersprüchlich an, aber Individualismus bedeutete, dass die Individuen alle gleich werden. Denn ein Individuum war man eben als Staatsbürger, als Wähler, als juristisches Subjekt – also dort, wo man von allen Unterschieden, von allen Besonderheiten wie Stand, Klasse oder Religion absah. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Nation funktioniert nur als Imagination

Seit Benedict Anderson weiß man: Die Nation ist eine „imaginated community“ eine vorgestellte Gemeinschaft. Dieser Titel des wohl bekanntesten Buches (1983) des amerikanischen Politikwissenschaftlers ist zu einem geflügelten Wort geworden. „Imaginated community“ bedeutet, dass die Nation als Vorstellung, als Imagination funktioniert. Isolde Charim fügt hinzu: „Man könnte auch sagen: Die Grundlage der homogenen Gesellschaft war die politische Vorstellungskraft. Die Leute haben an die Nation geglaubt. Sie haben an die Nation als eine Realität geglaubt.“ Und deshalb hat die Nation, so fiktiv sie auch immer gewesen sein mag, funktioniert. Deshalb hat diese Vorstellung, die Vorstellung „wir sind eine Nation“, tatsächlich eine nationale Gesellschaft hervorgebracht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Pluralisierung verändert alle Menschen einer Gesellschaft

Kein Mensch kann heute seine ganz persönliche Kultur noch so leben, als ob es keine andere neben ihm gäbe. In gemischten Gesellschaften steht jede Kultur neben anderen. Das heißt: Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine natürliche Zugehörigkeit mehr. Die Außenperspektive – dass es nämlich immer anders sein könnte, dass man jemand anders sein, etwas anderes glauben, anders leben könnte – ist heute Teil einer jeden Kultur. Und diese Veränderung betrifft jeden Einzelnen. Sie verändert den Bezug zur Gemeinschaft, zur eigenen Identität. Die Philosophin Isolde Charim wendet ihre Thesen in ihrem neuen Buch „Ich und die Anderen“ auf verschiedene gesellschaftliche Themen an, von der Integrationspolitik über die Definition des Heimatbegriffs bis hin zu den Debatten um religiösen Zeichen. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Eine Nation definiert sich durch Willkür und Wille

Am 11. März 1882 hält der französische Historiker, Schriftsteller und Philosoph Ernest Renan an der Sorbonne in Paris einen Vortrag. „Was ist eine Nation?“, fragt Ernest Renan, dessen Forschungsgebiet nationale Identitäten sind, und unterzieht im Weiteren die vier vermeintlichen Wesensmerkmale einer Nation – Rasse, Sprache, Religion, Geografie – einer kritischen Prüfung. Nationen sind, so darf man Ernest Renan verstehen, in der Geschichte etwas ziemlich Neues: „Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise.“ Christian Schüle erklärt: „Über Jahrhunderte hinweg war es üblich, dass die Nation vor allem eine Dynastie war, die eine alte Eroberung repräsentiert, mit der die Masse der Bevölkerung sich zunächst abgefunden und die sie dann vergessen hat.“ Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Vertrauen ist der Motor für die menschliche Kooperation

Spontaneität sowie automatisches und schnelles Reagieren gehören zu den wichtigsten Merkmalen emotionaler Rückmeldungen. Eyal Winter ergänzt: „In vielen Fällen ist schnelles Reagieren sogar einer der Vorteile, den emotionales Verhalten gegenüber bedächtigem Abwägen birgt.“ Schnelligkeit und Unwillkürlichkeit von Reaktionen sind im sozialen Umfeld äußerst wichtig. Vertrauen ist ein Motor für die Kooperation zwischen einzelnen Menschen. Kooperation wiederum ist ein Antrieb zu wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wohlergehen. Und Vertrauen setzt Glaubwürdigkeit voraus. Ohne Glaubenswürdigkeit kann auf lange Sicht kein Vertrauen bestehen; und ohne Vertrauen wird Glaubwürdigkeit schließlich zerstört. Wenn in einem sozialen Umfeld praktisch kein Vertrauen existiert, ist es sinnlos, Glaubwürdigkeit aufbauen oder aufrechterhalten zu wollen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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Eyal Winter stellt das Gefangenendilemma vor

Das sogenannte „Gefangenendilemma“ ist das vielleicht meiststrapazierte Paradox in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Eyal Winter betrachtet kurz die Elemente des Gefangenendilemmas: „Zwei des Bankraubs Verdächtigte werden verhaftet. Der Polizei fehlt es jedoch an ausreichenden Beweisen. Ohne Geständnis von mindestens einem der Tatverdächtigen muss die Polizei beide zwangsläufig freilassen.“ Beide Gefangenen sind in separaten Zellen eingesperrt. Dabei bietet man jedem folgenden Deal an: Wenn einer von beiden gesteht, während der andere schweigt, wird der Geständige freigelassen. Der Nichtgeständige wird verurteilt und muss eine fünfjährige Haftstrafe verbüßen. Wenn beide gestehen, werden beide verurteilt, allerdings nur zu vier Jahren Gefängnis. Die Verdächtigen wissen auch, dass die Polizei sie nicht des Bankraubs überführen kann, wenn beide schweigen, sondern sie nur wegen Raserei bei der Verfolgung belangen kann, wofür sie einen Monat absitzen müssten. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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Frank Trentmann erforscht den Kult ums Neue

Auf die Frage, warum die meisten Menschen so viel mehr konsumieren, als sie benötigen, antwortet Frank Trentmann: „Konsum ist heute ein wesentliches Merkmal unseres Lebens. Unsere Identität wird zum großen Teil davon bestimmt, was und wie wir konsumieren. Wir drücken uns über Dinge aus, die wir kaufen.“ Dass es solche Massen von Dingen sein müssen, … Weiterlesen

Die Frage „Was ist deutsch?“ stirbt niemals aus

Dieter Borchmeyer versucht in seinem Buch „Was ist deutsch?“ gerade diese Frage zu beantworten, die ihrerseits typisch deutsch ist, denn keine andere Nation hat über die Jahrhunderte so sehr um die eigene Identität gerungen. Der Autor zeigt, was das für das Selbstverständnis der Deutschen bedeutet hat und heute noch virulent ist: von den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs über den Nationalismus der Befreiungskriege bis zu den jüngsten Debatten über Integration. In einer Zeit, in der Deutschland sich erneut seiner selbst vergewissern muss, schärft das Buch „Was ist deutsch?“ den Blick nicht nur für das, was war, sondern auch für das, was noch vor den Deutschen liegt. Dieter Borchmeyer ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaften an der Universität Heidelberg.

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Ulrich Herbert analysiert die Jugend in der Weimarer Republik

Drei Momente waren es vor allem, welche die Entwicklung der Jugend in der Weimarer Republik kennzeichneten; zum einen die Ausläufer der Jugendbewegung, die sich nun zwar in unzählige „Stämme“, „Bünde“ und „Meuten“ differenzierte, aber doch in gewissen Kernelementen weiterhin Gemeinsamkeiten aufwies. Ulrich Herbert nennt Beispiele: „Wandern, Natur, Großstadtkritik, Autonomie, Kameradschaftsprinzip.“ Dabei war die national orientierte Jugendbewegung die bei Weitem mitgliederstärkste Richtung, organisiert in zahlreichen großen und kleinen Gruppen, unterschieden oft nur durch die Ausrichtung auf verschiedene Anführer oder Idole, aber doch geeint in der Orientierung an Volk, Nation und Deutschtum, wobei der Bogen von den Pfadfindern und politisch neutralen Bünden bis hin zu aggressiven völkischen Jugendbünden reichte. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Eyal Winter unterscheidet zwischen autonomen und sozialen Emotionen

Emotionen bilden einen Mechanismus, der Menschen dazu befähigt, Entscheidungen zu treffen. Sie wurden im Lauf der Evolution geformt und entwickelt, um die Überlebenschancen des Menschen zu verbessern. Eyal Winter fügt hinzu: „Die Menschheit verfügt neben den Emotionen über einen weiteren wichtigen Mechanismus, der uns bei der Entscheidungsfindung hilft, nämlich die Fähigkeit zur rationalen Analyse.“ Im Gegensatz zu Gefühlen wie Angst, Betrübtheit und Bedauern, die als autonome Emotionen bezeichnet werden können, sind Gefühle wie Wut, Neid, Hass und Mitgefühl soziale Emotionen. Sie sind per Definition interaktiv. Wut oder Mitleid empfindet ein Mensch gegenüber anderen; Bedauern dagegen empfindet er über eigene Handlungen. Die Unterscheidung zwischen autonomen und sozialen Emotionen ist besonders wichtig, um den Begriff der „klugen Gefühle“ zu verstehen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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Dem Liberalismus fehlt er nicht an sozialer Sensibilität

Obwohl der frühe Liberalismus zunächst nur einen methodischen, keinen sozialkritischen oder sozialethischen Individualismus vertritt, wirft man ihm gern pauschal, nämlich auf seine unterschiedlichen Gestalten einzugehen, einen Mangel an sozialer Sensibilität vor. Schon ein knapper Blick auf prominente Denker des klassischen Liberalismus kann diesen Vorwurf entkräften. Als ersten Beleg für die angeblich fehlende soziale Sensibilität pflegt man Adam Smith anzuführen. Otfried Höffe hält dagegen: „In Wahrheit hatte Smith nicht bloß viele Jahre einen Lehrstuhl für Moralphilosophie inne und verfasste eine wirkungsmächtige Theorie moralischer Gefühle, in der die Sympathie, also ein ausdrücklich soziales Gefühl, im Vordergrund steht.“ Selbst später, in der berühmten Wirtschaftstheorie „Eine Untersuchung über den Wohlstand der Nationen“ kommt es ihm auf Wohlstand an, was allerdings mehr als nur den materiellen Reichtum meint, und vor allem ist seine Bezugsgruppe des Wohlstands nicht eine kleine Gruppe oder Schicht. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Deutschland ist ein zutiefst gespaltenes Land

Alexander Hagelüken zeichnet in seinem Buch „Das gespaltene Land“ ein düsteres Bild von Deutschland. Seine dramatische Analyse zeigt, dass zunehmend Angehörige der Mittelschicht von sozialem Abstieg und von Armut im Alter bedroht sind. Auch vom Wirtschaftsboom in Deutschland profitieren zur wenige. Denn während die Reichen immer reicher werden, stagniert die untere Hälfte der Gesellschaft, die zudem noch so gut wie keine Ersparnisse besitzt. Alexander Hagelüken zeigt auf eindringliche Weise, dass das gespaltene Land einen neuen Gesellschaftsvertrag braucht: „Nur Wohlstand für alle schützt das Land vor einer Machtübernahme durch Rechtspopulisten, die in Amerika und Großbritannien schon geschehen ist.“ Der Autor untersucht in seinem Buch vor allem, wie sich Deutschland in den vergangen Jahrzehnten gespalten hat und woran das liegt. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Die Wutwähler fühlen sich von den Einwanderern bedroht

Die Wutwähler aller Länder fühlen sich von Einwanderern bedroht im Kampf um die verbliebene Arbeit, ganz im Gegensatz zu den gut ausgebildeten Eliten. Die weiße amerikanische Unterschicht sieht sich von hispanischen Einwanderern bedroht, während die gut Ausgebildeten Zuwanderung oft begrüßen, weil sie dem Wachstum nützt, der Demografie oder dem kulturellen Reichtum einer Gesellschaft. Das Gefühl, von der Politik vergessen worden zu sein, dominiert bei den Wutwählern aller Länder – unabhängig davon, welche Regierung gerade am Ruder ist. David Brooks, Kolumnist bei der New York Times, schreibt: „Wenn Menschen den Eindruck haben, dass ihre Welt verschwindet, werden sie zu einer leichten Beute für faktenfreies magisches Denken und Demagogen, die Einwanderer beschuldigen. Die Eliten haben zu viel gewollt, und nun geht die Geschichte in die entgegengesetzte Richtung.“

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Der Rechtspopulismus ist eine Gefahr für die Demokratie

Der Rechtspopulismus denkt partikularistisch. Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit gelten für Rechtspopulisten nur innerhalb der eigenen Gruppe: der Nation, der Steuerzahler, des Abendlandes. Kulturen und Identitäten sollen sich nicht vermischen. Das Fremde soll draußen bleiben, gerade weil die Welt so befremdlich geworden ist: der Fremde, die fremde Religion oder Lebensweise, der fremde Gedanke. Die mal latente, mal aggressive Ausländerfeindlichkeit der rechtspopulistischen Bewegung ist das auffälligste Symptom der Sorge um den Verlust der Identität. Sie muss in Abgrenzung zum Anderen gesichert und neu hergestellt werden. Der neue Rechtspopulismus ist keine konservative Bewegung. Er setzt im Gegenteil auf die Veränderung der Gesellschaft; darauf weist der Münchner Soziologe Armin Nassehi hin. Zwar stehen im Programm der AfD viele Forderungen aus dem klassischen Repertoire des Konservatismus. Wenn man die Forderungen aber zu Ende denkt, geht es bei ihnen weder um die Bewahrung des Bestehenden noch um die Wiedergewinnung des Verlorenen.

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