Junge Muslime der zweiten Generation leben vorwiegend in weltlichen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln. Sie befinden sich also in einer Umgebung, in der ihren religiösen Werte und Bräuche nicht öffentlich unterstützt werden. Ihre Eltern stammen häufig aus geschlossenen Dorfgemeinschaften. In denen praktiziert man beispielsweise lokale Formen des Islams, etwa die sufische Heiligenverehrung. Francis Fukuyama weiß: „Wie vielen Kinder von Immigranten liegt ihnen daran, sich von der altmodischen Lebensweise ihrer Familien zu distanzieren. Aber es fällt ihnen schwer, sich ihrer neuen europäischen Umgebung anzupassen.“ Die Jugendarbeitslosenquoten, zumal für junge Muslime, übersteigen oftmals dreißig Prozent. Und in etlichen europäischen Ländern stellt man immer noch eine Verbindung zwischen Ethnizität und Zugehörigkeit zu der dominierenden kulturellen Gemeinschaft her. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Junge Muslime erhoffen sich Beistand von der Religion
Unter solchen Umständen spitzt sich die Verwirrung über die eigene Identität unter den jungen Muslimen zu. Ähnliches ist über die verstädterten Europäer im 19. Jahrhundert zu berichten. Manche Muslime sehen das Ende der Verwirrung heute nicht in der Zugehörigkeit zu einer Nation. Sondern sie erhoffen sich es in einer größeren Religionsgruppe, der Umma oder Gemeinschaft der Gläubigen. Diese wird zum Beispiel von politischen Parteien wie der ägyptischen Muslimbruderschaft repräsentiert.
Wie klassische Nationalisten verfügen gegenwärtige Islamisten sowohl über eine Diagnose des Problems als auch über eine eindeutige Lösung. Francis Fukuyama kennt sie: „Du bist Teil einer stolzen und ehrwürdigen Gemeinschaft. Wir bieten dir einen Weg an, dich mit deinen wahren Brüdern und Schwestern zusammenzuschließen.“ Dadurch wird der Umworbene zum Mitglied einer großen Gemeinschaft von Gläubigen, der sich über die Kontinente erstreckt.
Der radikale Islam bietet Gemeinschaft und Akzeptanz
Derartige Bekundungen des Stolzes auf die eigene Identität können kulturelle Umwälzungen erklären. Diese haben sich im Lauf der vergangenen Generation überall in der muslimischen Welt abgespielt. Islamistische Volksparteien sind inzwischen bereit, an der demokratischen Politik teilzunehmen, und können durch Wahlsiege an die Regierung gelangen. Trotz ihrer öffentlichen Bekenntnisse zur Demokratie bleiben ihre säkularen Gegner oftmals höchst misstrauisch. Vor allem trauen sie den langfristigen politischen Zielen der Islamisten nicht.
Das Gleiche konnte man im 19. Jahrhundert, ebenso wie heutzutage, über Nationalisten sagen. Sie halten sich häufig an demokratische Regeln. Trotzdem hängen sie infolge ihrer Sehnsucht nach Einheit und Gemeinschaft potenziell illiberalen Tendenzen an. Vor allem europäische Muslime der zweiten Generation sind gefangen zwischen zwei Kulturen. Erstens derjenigen ihrer Eltern, die sie ablehnen. Und zweitens jener ihrer Wahlheimat, die sie nicht vollauf akzeptiert. Francis Fukuyama stellt fest: „Der radikale Islam dagegen hat ihnen Gemeinschaft, Akzeptanz und Würde zu bieten. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama
Von Hans Klumbies