Die europäischen Nachbarn haben mit Deutschland ein Jahrhundertproblem

Andreas Rödder erzählt in seinem neuen Buch „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von der Rolle und der Wahrnehmung Deutschlands in den letzten knapp 150 Jahren. Die Bundesrepublik ist heute die stärkste Macht in Europa, wirtschaftlich wie politisch. Diese Stärke zieht sich ebenso durch die Geschichte wie die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands in den Nachbarländern: als Kulturnation und als rücksichtsloser Staat. Andreas Rödder erläutert die Entstehung und die Wirkung solcher Stereotypen, aber auch der deutschen Selbstbilder, die ganz anders ausfielen. Aktuell steckt Deutschland wieder einmal in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der Dominanz sofort bei der Hand. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

1914 begann die Geschichte der Selbstzerstörung

Hinter dem Jahrhundertproblem, das die europäischen Nachbarn mit Deutschland haben, stehen zwei Geschichten. Die eine ist die der deutschen Stärke. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde die über Jahrhunderte politisch zersplitterte Mitte Europas zu einer der militärisch stärksten Mächte auf dem Kontinent. Und dann beging es den größten Fehler, den es begehen konnte: Mit der Kriegserklärung vom 1. August 1914 begann eine beispiellose Geschichte der Selbstzerstörung.

Heute allerdings steht Deutschland wieder da, wo es vor 1914 schon einmal gewesen war. Wieder wollte es als europäische Vormacht in einer „halbhegemonialen Stellung“ wahrgenommen: zu schwach, um den Kontinent wirklich zu beherrschen, aber zu stark, um sich einfach einzuordnen. Die zweite Geschichte handelt von den unterschiedlichen deutschen Selbstbildern und der Fremdwahrnehmung von Deutschland. Einen Vorrang zu beanspruchen hielten die Deutsches für ihr gutes Recht oder ihre moralische Pflicht, während es anderen Nationen als deutscher Vormachtsanspruch erschien.

Deutsche Stärke und europäische Ordnung müssen eine Einheit bilden

Mit „Wer hat Angst vor Deutschland?“ möchte Andreas Rödder einen Beitrag zur Geschichte der internationalen Politik und zur europäischen Konfliktgeschichte seit dem 19. Jahrhundert leisten. Zugleich soll das Buch zur historisch-politischen Diagnose der Gegenwart und Standortbestimmung Deutschlands in Europa beitragen. Schon 1648 galt, und so ist es geblieben: Die deutsche Geschichte war in besonderem Maße Teil der europäischen Geschichte, und immer hatten die europäischen Geschicke besondere Auswirkungen auf Deutschland.

Andreas Rödder erschließt mit seinem historischen Ansatz den Blick auf ein offenes und flexibles Europa, das seine Kraftquellen ausschöpft, um neue Attraktivität nach innen und neue Stärke nach außen zu gewinnen – ein Europa, dass deutsche Stärke und europäische Ordnung ebenso miteinander verbindet wie Ideen und Interessen, Führung und Rücksicht, Europäische Union und europäische Nationalstaaten. Andreas Rödder fordert: „Was es braucht, sind historisch inspirierte Kreativität, politischer Wille und kooperative Führung. Dann ist, wie die Geschichte zeigt, vieles möglich.“

Wer hat Angst vor Deutschland?
Geschichte eines europäischen Problems
Andreas Rödder
Verlag: S. Fischer
Gebundene Ausgabe: 367 Seiten, Auflage: 2018
ISBN: 978-3-10-397238-2, 20,00 Euro

Von Hans Klumbies