Die Deutschen mangelte es am Geist des Verhaltens

Nicht jeder Mensch, der sich liebt, wird zum Narzissten. Nicht jede Nation, die sich liebt, wird zum narzisstischen Monster. Thea Dorn erläutert: „Im Gegenteil: Für dergleichen Störungen und Exzesse sind gerade diejenigen Menschen und Nationen anfällig, die sich in Wahrheit selbst verachten.“ Denn sie verfügen eben über kein souveränes, gelassenes Selbstbewusstsein, sondern leiden vielmehr unter einem Minderwertigkeitskomplex. Unter einem groben Minderwertigkeitskomplex haben die Deutschen von Anfang an gelitten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichte Adolph Freiherr von Knigge seine berühmte Benimmfibel „Über den Umgang mit Menschen“. Die Notwenigkeit seiner Schrift begründete der Freiherr damit, dass es den Deutschen bei aller Gemütstiefe leider eklatant am „esprit de conduite“ mangele. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Der deutsche Patriotismus wirkte sehr zerstörerisch

Das gesamte frühe bildungsbürgerliche Vereinswesen hatte sich zum Ziel gesetzt, die Deutschen endlich in manierliche, elegante und kultivierte Zeitgenossen zu verwandeln. Denn sie bewunderten damals neidvoll die Engländer und Franzosen, die dies schon seit Längerem waren. Sein bösartiges Gesicht offenbarte der deutsche Minderwertigkeitskomplex, sobald die Deutschen anfingen, nach realpolitischer Macht zu streben. Dazu zählen erstens die ständigen Kriege gegen Frankreich im 19. Jahrhundert.

Zweitens zählte dazu die Kolonialpolitik im Kaiserreich von Wilhelm II. und Otto von Bismarck und endgültig die beiden Weltkriege. Dabei entstand die entsetzliche Ideologie des „Volks ohne Raum“, das die Nazis in die blutige Sprache des Angriffskrieges übersetzten. Denn sie meinten, dem deutschen Volk „Lebensraum im Osten“ schaffen zu müssen. Thea Dorn erklärt: „All diese Irrwege schlug Deutschland ein, weil es sich seiner selbst nie sicher gewesen ist. Der deutsche Patriotismus konnte in der Geschichte so zerstörerisch wirken, weil er nicht wusste, worauf sie die Vaterlandsliebe konkret beziehen sollte.

Dolf Sternberger erfindet den Verfassungspatriotismus

Kluge Zeitgenossen ersannen in der alten Bundesrepublik das Konzept des „Verfassungspatriotismus“. Damit wollten sie verhindern, dass sich der Patriotismus der Deutschen jemals wieder mörderisch überhitzte. Geprägt wurde diese Zauberformel eines menschheits- und freiheitsfreundlichen Patriotismus von dem Politologen und Journalisten Dolf Sternberger. Der Philosoph Jürgen Habermas, der mit diesen Begriff heute meist in Verbindung gebracht wird, hat ihn sich erst deutlich später angeeignet.

Am dreißigsten Jahrestag des Grundgesetzes, am 23. Mai 1979, brachte Dolf Sternberger den Begriff zum ersten Mal ins Spiel. In seinem Leitartikel „Verfassungspatriotismus“, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, schrieb er: „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.“ Bereits 1761 schrieb der Schriftsteller und Philosoph Thomas Abbt, dass nur derjenige Staat ein Anrecht darauf habe, geliebt zu werden, der seinen Bürgern Recht und Freiheit garantiere. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies