Die Frankfurter Schule hat Deutschland offener gemacht

Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär – allen voran Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft in seinem neuen Buch „Grand Hotel Abgrund“ eine vielschichtige Biografie der Frankfurter Schule, die sich mitten im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme ereignet. Er schildert, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Entschieden wehrten sich Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und die Mitglieder der Frankfurter Schule gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus und die Beherrschung von Natur und Mensch. Kritisch beobachtet Stuart Jeffries, wie die sogenannten 68er Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Der Autor beschreibt, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass nach dem Tod Theodor W. Adornos die „Schule“ plötzlich geschlossen wurde. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

Die Frankfurter Schule bestach durch theoretische Virtuosität

Seit seiner Gründung im Jahr 1923 hielt sich das marxistische Forschungsinstitut, das später unter dem Namen „Frankfurter Schule“ berühmt wurde, abseits von jeglicher Parteipolitik und kultivierte eine deutliche Skepsis gegenüber politischen Kämpfen. Stuart Jeffries erläutert: „Seine führenden Köpfe – Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock, Franz Neumann und Jürgen Habermas – kritisierten virtuos die Schändlichkeit des Faschismus und den sozial vernichtenden, geistig erdrückenden Einfluss des Kapitalismus auf die Gesellschaften des Westens, doch ihre Bereitschaft, das zu verändern, was sie kritisierten, blieb weiter hinter dieser theoretischen Virtuosität zurück.“

Andere Marxisten verärgerte diese Verhaltensweise zutiefst. Der ungarische Philosoph Georg Lukács warf Theodor W. Adorno und anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule einmal vor, sie würden in einem Etablissement residieren, das er als „Grand Hotel Abgrund“ bezeichnete. Dieses schöne Hotel sei, so schrieb er, „mit allem Komfort ausgestattet – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität.“ Für Georg Lukács hatte die Frankfurter Schule die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis aufgegeben, wobei letztere die Umsetzung ersterer in Handlung bedeutete.

Die Frankfurter Schule entwickelte den Marxismus neu

Das Buch „Grand Hotel Abgrund“ ist zum Teil eine Gruppenbiografie, die beschreibt, wie die führenden Denker der Schule sich gegenseitig beeinflussten und miteinander intellektuelle Kämpfe austrugen; und wie ihre frühen Erfahrungen, in vornehmlich wohlhabenden jüdischen Elternhäusern aufgewachsen zu sein, zu ihrer Absage an den Mammon und die Hinwendung zum Marxismus beitrugen. Stuart Jeffries fasziniert an der Frankfurter Schule allem, wie deren Vertreter einen überzeugenden kritischen Apparat entwickelten, um die Zeitläufe zu verstehen, in denen sie lebten.

Sie fassten den Marxismus neu, indem sie Ideen aus der freudschen Psychoanalyse einbrachten, um so zu begreifen, wie die dialektische Bewegung der Geschichte hin zu einer sozialistischen Utopie offensichtlich aufgehalten werden konnte. Vor allem beschäftigten sie sich mit der Frage, wie das Alltagsleben zum Schauplatz einer Revolution werden könnte, das faktisch jedoch überwiegend das Gegenteil war, nämlich von einem Konformismus durchsetze, der jeden Wunsch, ein repressives System zu überwinden, zunichtemachte. Trotz aller Rückschläge war der Einfluss der Frankfurter Schule auf die deutsche Gesellschaft dennoch gewaltig. Viele Deutsche haben sich zum Positiven hin verändert: sie sind freier, offener und selbstkritischer.

Grand Hotel Abgrund
Die Frankfurter Schule und ihre Zeit
Stuart Jeffries
Verlag: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 509 Seiten, Auflage: 2019
ISBN: 978-3-608-96431-8, 28,00 Euro

Von Hans Klumbies