Rotraud A. Perner lotet die Grenzen des Schmerzes aus

Wenn Aggressionen, aus welchen Gründen auch immer, nicht kommuniziert werden kann oder darf, dann bleiben die Komponenten des Aggressionsapparats, insbesondere die Angstzentren, neurobiologisch geladen, mahnt Joachim Bauer, Psychiater, Psychotherapeut und Internist, der an der Universität Freiburg Neurobiologie lehrt. Die Genese, des von ihm als „Gesetz der Schmerzgrenze“ bezeichneten Verhaltensprogramms der Aggression wurzle daher in der Notwendigkeit, Schmerz abzuwehren, körperliche Unversehrtheit zu erhalten und lebenswichtige Ressourcen zu erhalten. Joachim Bauer erklärt: „Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionsapparats und zu aggressiven Verhalten. Bei sozial lebenden Lebewesen wie dem Menschen zählen Zugehörigkeit und Akzeptanz zu den lebenswichtigen Ressourcen. Demütigung und Ausgrenzung werden vom menschlichen Gehirn wie körperlicher Schmerz erlebt, sie tangieren die Schmerzgrenze.“ Eigentlich müsste dann der solcherart zu aggressivem Verhalten angestachelte Mensch seine Peiniger attackieren, um seinen seelische und damit neuronale Harmonie wiederherzustellen.

Eltern finden das Buhlen ihrer Kinder um Liebe nervig

Nun betont Sigmund Freud aber wiederholt, dass eine der Hauptbestrebungen der Kultur in der Zusammenballung der Menschen zu großen Einheiten bestünde. Diesem Zweck dienen die gesellschaftlich bewährten Repressionen, die er in der ödipalen Phase verortet, in der das um die Liebe des gegengeschlechtlichen Elternteils buhlende (männliche) Kind aggressive Gefühle gegen den die angestrebte Dyade störenden gleichgeschlechtlichen Elternteil entwickelt und die als geglückt überwunden gilt, wenn die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil erfolgt und dessen Dominanz anerkannt wird.

Entkleidet man die Thesenbildung Sigmund Freuds ihrer sexuellen Komponente, zeigt die heutige alltägliche psychotherapeutische Erfahrung, dass die meisten mit psychoanalytischem Fachwissen unvertrauten Eltern das Buhlen des noch auf Mutter und Vater ausgerichteten Vorschulkindes nicht amüsant, sondern nervig finden. Rotraud A. Perner, Juristin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin erklärt: „Ihre meist unpädagogischen Bemühungen, das Kind ihren Wünsche zu unterwerfen, führen eher zu Schuldgefühlen beim Kind, das sich als nicht akzeptiert und ausgegrenzt fühlt, als zu eigenen Schuldgefühlen wegen der erlebten pädagogischen Hilflosigkeit.“

Das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts

Der Philosoph Herbert Marcuse (1898 – 1979) kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Nach Freuds Darstellung wurde die erste menschliche Gruppe durch die Zwangsherrschaft eines Einzelnen über alle anderen errichtet und aufrechterhalten. Zu einem Zeitpunkt im Leben der Spezies Mensch wurde das Leben durch Herrschaft organisiert. Und der Mensch, dem es gelang, die anderen zu beherrschen, war der Vater – das heißt der Mann, der die ersehnten Frauen besaß und der mit ihnen die Söhne und Töchter hervorgebracht und am Leben erhalten hatte.“

Der Vater beanspruchte das Monopol auf die Frauen und damit auf die höchste Lust und unterwarf die anderen Hordenmitglieder seiner Macht. Wer sich ihm widersetzte, wurde getötet, kastriert oder aus der Gruppe ausgeschlossen. Ein Schuldgefühl entsteht daher aus der Angst vor den Folgen des verübten, geplanten oder fantasierten Vatermords. Herbert Marcuse ergänzt: „Manche Formulierungen Freuds scheinen dies zu besagen: Das Schuldgefühl ist die Folge unbegangener Aggression, das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts.“ Quelle: „Die reuelose Gesellschaft“ von Rotraud A. Perner

Von Hans Klumbies