Die philosophische Erkenntnis soll das höchste Glück gewähren

Die Lehre, dass alle menschliche Erkenntnis ihrem Sinn nach auf die Praxis bezogen sei, gehörte zum Kernbereich der antiken griechischen Philosophie. Aristoteles vertrat die These, dass die erkannten Wahrheiten die Praxis leiten sollten, sowohl in den Erfahrungen des Alltags als auch in den Wissenschaften und Künsten. Die Menschen brauchen in ihrem Daseinskampf die Anstrengung der Erkenntnis, das Suchen nach der Wahrheit, weil ihnen nicht unmittelbar zugänglich ist, was das für sie Gute, Zuträgliche und Richtige ist. Aristoteles vertritt die Auffassung, dass alle Berufsgruppen in ihrem Sachgebiet über das rechte Wissen verfügen müssen, um so handeln zu können, wie es die jeweils wechselnde Situation erfordert. Aristoteles betont so den praktischen Charakter jeder Erkenntnis, macht aber laut Herbert Marcuse einen bedeutenden Unterschied zwischen den verschiedenen Erkenntnissen.

Aristoteles trennt das Zweckmäßige und Notwendige vom Schönen

Herbert Marcuse erklärt: „Aristoteles ordnet die Erkenntnisse gleichsam in einer Wertreihe, deren Stelle das zweckmäßige Bescheidwissen mit den notwendigen Dingen des alltäglichen Daseins einnimmt und auf deren oberster Stufe die philosophische Erkenntnis steht, die für keinen außerhalb ihrer selbst willen geschieht und die den Menschen das höchste Glück gewähren soll.“ Aristoteles teilt das Leben in Arbeit und Muße sowie in Krieg und Frieden ein, während er die Tätigkeiten in notwendige, nützliche und schöne gliedert.

Die Trennung des Zweckmäßigen und Notwendigen vom Schönen und vom Genuss ist laut Herbert Marcuse der Beginn einer Entwicklung, die das Feld freigibt für den Materialismus der bürgerlichen Praxis auf der einen Seite und für die Stilllegung des Glücks und des Geistes in einen Reservatbereich der Kultur auf der anderen Seite. Die Welt des Notwendigen, der alltäglichen Lebensbesorgung ist für Herbert Marcuse unbeständig, unsicher, unfrei – nicht nur faktisch, sondern in ihrem ganzen Wesen.

Der Mensch soll sich nicht zum Sklaven von Menschen und Gütern machen

Herbert Marcuse vertritt die These, dass die Verfügung über die materiellen Güter nie ganz das Werk menschlicher Tüchtigkeit und Weisheit ist, da der Zufall dabei immer eine Rolle spielt. Herbert Marcuse warnt: „Das Individuum, welches sein höchstes Ziel: seine Glückseligkeit in diese Güter setzt, macht sich zum Sklaven von Menschen und Dingen, die seiner Macht entzogen sind: es gibt seine Freiheit auf. Reichtum und Wohlstand kommen nicht durch seine autonome Entscheidung, sondern durch die wechselnde Gunst undurchschaubarer Verhältnisse.“

Der Mensch unterwirft also sein Leben einem außerhalb seines selbst liegenden Zwecks. Dass ein solcher äußerer Zweck allein schon den Menschen verkümmert und versklavt, weist für Herbert Marcuse auf eine schlechte Ordnung der materiellen Lebensverhältnisse hin, deren Reproduktion durch die Anarchie einander entgegengesetzter gesellschaftlicher Interessen geregelt wird. Dabei handelt es sich um eine Ordnung, in der die Entfaltung des allgemeinen Daseins nicht mit dem Glück und der Freiheit der Individuen zusammengeht.

Kurzbiographie: Herbert Marcuse

Herbert Marcuse wurde am 19. Juli 1898 in Berlin geboren. Im Jahr 1934 emigrierte der Philosoph, Politologe und Soziologe in die USA, wo er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Philosophie an der University of California lehrte. Zu seinen bekanntesten Schriften zählen: „Vernunft und Revolution“, „Triebstruktur und Gesellschaft“, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“, „Der eindimensionale Mensch“, „Kultur und Gesellschaft I und II“ sowie „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“. Herbert Marcuse starb am 29. Juli 1979 in Starnberg.

Von Hans Klumbies