Walter Benjamin blickt auf seine Kindheit zurück

In Walter Benjamins Erinnerungen an seine Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts stößt man auf eine befremdliche, kontraintuitive kritische Bewegung. Diese vollführt er in seinen Texten immer. Stuart Jeffries erläutert: „Er reißt die Ereignisse aus dem von ihm sogenannten historischen Kontinuum heraus, um in einem gnadenlosen Rückblick die Illusionen aufzudecken, die zuvor noch für Wahrheiten gehalten wurden. Er jagt retrospektiv Dinge in die Luft, die in ihrer Zeit ganz natürlich, unproblematisch, gesund gewirkt hatten.“ Man hätte auf den ersten Blick annehmen können, er geben sich dem nostalgischen Abglanz einer idyllischen Kindheit hin. Ermöglicht wäre dies durch das Geld des Vaters und der Arbeit von Dienstboten. Doch in Wahrheit steckte er gewissermaßen Dynamitstangen in die Grundfesten seiner Kindheit und überhaupt des Berlins seiner frühen Jahre. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

Die Industrialisierung nimmt rapide Fahrt auf

In seinen Erinnerungen einer verlorenen Kindheit ist außerdem vieles von dem enthalten, was diesen bedeutenden Kritiker und Philosophen für die überwiegend jüngeren Landsleute und jüdischen Intellektuellen, die für das Institut für Sozialforschung tätig waren, so eindrucksvoll und einflussreich machte. Dabei handelte es sich um jene Einrichtung, die später als Frankfurter Schule bekannt wurde. Walter Benjamin war der wichtigste intellektuelle Impulsgeber, obwohl der nie zur Belegschaft des Instituts gehört hatte.

Wie die Horkheimers, die Marcuses, die Pollocks, die Wiesengrund-Adornos und andere Familien assimilierter Juden, aus denen die Denker der Frankfurter Schule stammten, lebten die Benjamins in unerhörtem Luxus. Sie umgaben sich mit dem wilhelminischen Pomp des machtstrebenden deutschen Staates zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit vollzog sich eine rapide Industrialisierung. Und das war einer der Gründe, warum Walter Benjamins Schriften auf viele führende Mitglieder der Frankfurter Schule einen so tiefen Eindruck machten. Diese Männer hatten denselben privilegierten, säkularen jüdischen Hintergrund des neuen Deutschland. Und sie lehnten sich ebenso wie er gegen den Krämergeist ihrer Väter auf.

Max Horkheimer und Co. wuchsen im Luxus auf

Stuart Jeffries nennt zwei Beispiele: „Max Horkheimer (1895 – 1973) war der Sohn eines Textilfabrikanten in Stuttgart. Der Philosoph und Kritiker war mehr als dreißig Jahre lang der Leiter des Instituts für Sozialforschung. Herbert Marcuse (1898 – 1979) war der Sohn eines wohlhabenden Berliner Geschäftsmanns. Der politische Philosoph war ein Liebling der radikal Studierenden in den 1960er Jahren. In seiner Jugend gehörte er als Angehöriger einer jüdischen Familie, die in die deutsche Gesellschaft integriert war, zur oberen Mittelschicht.“

Der Vater des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Friedrich Pollock (1894 – 1970) wandte sich vom Judentum ab. Er war als Besitzer einer Lederfabrik in Freiburg im Breisgau geschäftlich erfolgreich. Auch der Philosoph, Komponist, Musiktheoretiker und Soziologe Theodor Wiesengrund Adorno (1903 – 1969) lebte als Knabe in unbeschwerten Umständen. Diese waren mit denen des jungen Walter Benjamin vergleichbar. Sein Vater war ein erfolgreich assimilierter jüdischer Weinhändler in Frankfurt. Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries

Von Hans Klumbies