Viele Menschen in Deutschland träumen von Abschottung

In Deutschland, nicht anders als in anderen europäischen Ländern oder unter Donald Trump-Wählern, träumen viele von Abschottung, um ihre Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Zudem ist die Sehnsucht nach einem besseren Gestern, nach einem Heil in der Vergangenheit allgegenwärtig. Richard David Precht erläutert: „Noch hängen in Deutschland mehr Menschen einer solchen Retropie an als gegen eine wahrscheinliche digitale Dystopie aufzubegehren. Geflüchtete Menschen auf den Straßen sind sichtbarer, lauter und für viele verstörender als Algorithmen.“ In ihrer Angst, Überforderung, Unsicherheit, Aggression und in ihrem Hass schreien Menschen auf deutschen Marktplätzen und in Bierkellern: „Deutschland!“ Doch was ist Deutschland, zu welchem Deutschland wollen sie zurück? Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Die Deutschen leben längst in einer Universalkultur

Die AfD beschwört auf Marktplätzen die tausendjährige Geschichte Deutschlands. Das ist, trotz finsterer Reminiszenz, nicht falsch. Aber wenn diese Geschichte im 21. Jahrhundert möglicherweise zu Ende geht, liegt das nicht einfach an den Geflüchteten. Deutschland schafft sich im Eiltempo ab durch die Globalisierung von Waren und Dienstleistungen. Der durchschnittliche Deutsche verbringt mehr Zeit am Tag im „global village“ als in jenem Gebilde, dem die Wetterkarte eine Form und der Fußball ein Gefühl gibt.

Das Deutschland der Rechten dagegen ist eine Bierfantasie, ein Land, das sich nicht vorstellen lässt und das es nicht gibt. Tatsächlich leben die Deutschen längst in einer Universalkultur, in der es nun wirklich nicht darauf ankommt, ob ein Syrer oder ein Deutscher digitales Spielzeug bedient, das in den USA erfunden, in Korea vermarktet, von chinesischen Kindern zusammengeschraubt und mit Seltenen Erden bestückt wurde, die ein hungernder Hilfsarbeiter im Kongo aus der Erde gegraben hat.

Geld kennt keine Vaterländer und keine Muttersprache

Die Vorstellung von Deutschland – ein ethnisches Volk, ein gesichertes Staatsgebiet, ein geschlossener Wirtschaftsraum – stammt aus dem 19. Jahrhundert. Richard David Precht betont: „In der bildschirmflachen Welt des 21. Jahrhunderts hat dieses Bild seine Konturen verloren. Der Markt ebnet alles ein, Geld kennt keine Vaterländer und keine Muttersprache.“ Dies ist kein politisches Versagen, sondern der Lauf der Weltgeschichte, getrieben von der unaufhaltsamen Dampf- und Wohlstandsmaschine der Ökonomie.

Nichts würde deutscher an Deutschland, wenn die AfD die Kanzlerin stellte. Dass die Kinder wieder früher heiraten und sich kleine Idyllen aufbauen, wird daran nichts ändern. Als Seelenrefugium, verniedlicht mit einer feinen Portion schwedischem Bullerbü, wird das deutsche Idyll noch lange seinen Dienst tun. Aber es wird eben nur ein Gefühl innerhalb einer alles umfassenden world.com sein, mitnichten etwas, was eine eigene Identität beanspruchen kann. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies