Oscar Wilde stellte die rätselhafte Behauptung auf: „Die meisten Menschen sind jemand anderes.“ Er begründete seine Ansicht sehr überzeugend: „Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben ist Nachahmung, ihre Leidenschaften sind Zitate.“ Amartya Senn stimmt dieser Auffassung zu: „Tatsächlich werden wir in erstaunlichem Maße von Menschen beeinflusst, mit denen wir uns identifizieren.“ Sektiererischer Hass kann sich, wenn er aktiv geschürt wird, zu einem Flächenbrand ausweiten. Amartya Sen nennt als Beispiele den Kosovo, Bosnien, Ruanda, Timor, Israel, Palästina und den Sudan. Das Gefühl der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend angestachelt, zu einer mächtigen Waffe werden, mit der man anderen grausam zusetzt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Die einzigartige Identität ist eine Illusion
Viele der Konflikte und Grausamkeiten in der Welt beruhen denn auch auf der Illusion einer einzigartigen Identität. Zu dieser scheint es keine Alternative zu geben. Die Kunst, Hass zu erzeugen, nimmt die Form an, die Zauberkraft einer vermeintlich überlegenen Identität zu beschwören. Diese überdeckt andere Zugehörigkeiten. Und in einer entsprechend kriegerischen Form kann sie auch jedes menschliche Mitgefühl übertrumpfen. Das Ergebnis ist dann entweder krude elementare Gewalt oder heimtückische Gewalt und Terrorismus im globalen Maßstab.
Es gibt Personen die annehmen, dass man Menschen ausschließlich aufgrund der Religion oder Kultur zuordnen kann. Das ist jedoch eine kaum zu unterschätzende Ursache potentieller Konflikte in der heutigen Welt. Der darin enthaltene Glaube an die alles andere beherrschende Macht einer singulären Klassifikation kann die ganze Welt in ein Pulverfass verwandeln. Oft betrachtet man die Welt ausschließlich als eine Ansammlung von Religionen oder Kulturen, unter Absehung von anderen Identitäten.
Etablierter Begriffe bedürfen einer Neubewertung
Zu den anderen Identitäten zählt Amartya Sen Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral und Politik. Eine einseitige Einteilung löst mehr Konflikte aus als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Zuordnungen, welche die Welt prägen. Der Reduktionismus der hohen Theorie kann, oft ungewollt, zur Gewalt der niederen Politik beitragen. Weltweite Bemühungen um die Überwindung dieser Gewalt behindert man zudem nicht selten durch begriffliche Unklarheiten.
Wer explizit oder implizit eine einzige Identität hinnimmt, verbaut dadurch viele naheliegende Möglichkeiten des Widerstandes. Religiös begründete Gewalt bekämpft man dann am Ende nicht durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft. Sondern man setzt gemäßigte Religionsführer ein, welche die Extremisten in einer innerreligiösen Auseinandersetzung besiegen sollen. Beispielsweise indem sie die Forderungen der jeweiligen Religion neu definieren. Amartya Sen verlangt eine Überprüfung und Neubewertung etablierter Begriffe. Dazu zählt er die ökonomische Globalisierung, den politischen Multikulturalismus, den historischen Postkolonialismus, die soziale Ethnizität, den religiösen Fundamentalismus und den globalen Terrorismus. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen
Von Hans Klumbies