Das Zeitalter der großen Gereiztheit ist angebrochen

In der Welt der sozialen Netze herrscht längst ein Zustand rauschhafter Nervosität, eine Stimmung der kollektiven Gereiztheit, weil alles ans Licht gezerrt wird, sei es das Banale oder das Bestialische, die enthemmte Beschimpfung und die anonyme Attacke. Bernhard Pörksen analysiert in seinem neuen Buch „Die große Gereiztheit“ die Erregungsmuster der digitalen Epoche und das große Geschäft mit der Desinformation. Der Autor führt vor, wie sich die Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen, der Charakter von Debatten und die Vorstellung von Autorität und Macht verändern. Heute kann jeder Nachrichten versenden, der Einfluss der etablierten Medien schwindet. In dieser Gemengelage sollte der kluge und intelligente Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung gehören und in der Schule gelehrt werden. Denn die Mündigkeit in Bezug auf die Medien ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Ganze Gesellschaften befinden sich in Phasen rauschhafter Nervosität

Bernhard Pörksen schreibt: „Jeder, der postet und kommentiert, Nachrichten und Geschichten teilt, ein Handyvideo online stellt, leistet seinen Beitrag, wirkt daran mit, die Erregungszonen der vernetzten Welt endgültig zu entgrenzen.“ Und es vergeht kein Tag ohne Verstörung, keine Stunde ohne Push-Nachrichten, kein Augenblick ohne Aufreger. Die Effekte digitaler, vernetzter Medien verändern den Charakter dessen, was im Allgmeinen Öffentlichkeit genannt wird. Sie schließen das öffentliche und das private Bewusstsein kurz.

Diese Effekte erzeugen eine eigene Dynamik und Dramatik der Enthüllungen. Sie treiben ganze Gesellschaften in Phasen rauschhafter Nervosität und der Verunsicherung hinein. Sie lassen Konflikte in Hochgeschwindigkeit eskalieren und erhalten sie am Leben, weil auf einmal alle ohne größere Schwierigkeiten mitzündeln und die einmal entstandene Aufregung immer wieder neu anfachen können. Viele Menschen spüren deshalb ein untergründiges Beben, eine konstante Verstörung durch die allgegenwärtige Vernetzung und können sich ihr kaum entziehen.

Bernhard Pörksen entwirft die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft

Heute regiert bei vielen Experten die Angst, dass Hass, Misstrauen und Wut das große gesellschaftliche Gespräch ruinieren könnten und die öffentliche Welt in einem Strudel von sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede versinkt. Kaum verwunderlich erscheint daher auch, dass diejenigen, die sich kritisch und kontrovers im Netz positionieren, dies nicht selten mit einem Gefühl der Beklommenheit und Verzagtheit tun. Man fürchtet unkalkulierbare Effekte wie maßlose Reaktionen und asymmetrischen Attacken.

Im letzten Kapitel seines Buchs „Die große Gereiztheit“ entwirft Bernhard Pörksen die konkrete Utopie einer redaktionellen Gesellschaft. Die Orientierung an der Wahrheit und der Transparenz sind als Leitwerte einer solchen Gesellschaftsordnung unverzichtbar. Den Imperativ der Transparenz einer redaktionellen Gesellschaft formuliert Bernhard Pörksen wie folgt: „Gebe deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von dir vermittelten Informationen einzuschätzen!“ Zu den Grundvoraussetzungen einer solchen Gemeinschaft zählen die Autonomie und Selbstverantwortung des Menschen und seine Fähigkeit, mit anderen auf gute Weise in Freiheit zu leben.

Die große Gereiztheit
Wege aus der kollektiven Erregung
Bernhard Pörksen
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 255 Seiten, Auflage: 2018
ISBN: 978-3-446-25844-0, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies