Erasmus von Rotterdam begründet die Philologie

Erasmus von Rotterdam (1464/69 – 1536) war nicht nur der Erzieher Karls V., sondern er war darüber hinaus ein einschließender Geist. Der überlebensgroße Sammler hat jeden Tag circa 1.000 Wörter zu Papier gebracht. Er trug in seinem weitläufigen Werk Weisheiten von allen Ufern zusammen. Als Herausgeber, Redakteur und Textkritiker begründete er die moderne Philologie. Er war ein geselliger Geist, dessen Briefwechsel keine Ecke seiner Welt ausließen. Zugleich war er jedoch in seiner Zeit eine einsame Erscheinung. Keine Kompromisse nämlich machte er als Pazifist. Legitim konnte ein Krieg für ihn höchstens sein, wenn das ganze Volk in wünschte. Dieses aber bestand für Erasmus von Rotterdam bereits aus Individuen. Die Torheit ist seiner Meinung nach die Einzige, die für alle sprach. Nicht zu schön ist sie sich, vom Olymp zu den Menschen herunterzusteigen.

Zorn und Begierde sind die Gegenspieler der Vernunft

Nach der Lehre der Stoiker ist die Weisheit nichts anderes als die Führung durch die Vernunft. Die Torheit dagegen gleich der Abhängigkeit vom Drang der Leidenschaften. Wie viel mehr Leidenschaften als Vernunft gab Jupiter den Menschen, damit das menschliche Leben nicht völlig traurig und finster würde? Außerdem hat er laut Erasmus von Rotterdam die Vernunft in einen Winkel des Kopfes verbannt und überließ den ganzen übrigen Körper der Verwirrung.

Gleichsam zwei äußerst gewalttätige Tyrannen stellte Jupiter gegen einen. Zum einen den Zorn, der das Herz, den Quell des Lebens beherrscht. Zum anderen die Begierde, die ganz unten bei der Scham die ausgedehnteste Herrschaft behauptet. Erasmus von Rotterdam stellt fest: „Wie viel die Vernunft gegenüber diesen beiden Aufgeboten wert ist, beweist das gemeine menschliche Leben deutlich genug.“ Während sie sich beim Anpreisen des Ziemlichen und Ehrenhaften heiserschreit, legen jene ihrem König eine Schlinge.

Wahrheit und Wein gehören zur Jugend

Dabei gehen der Zorn und die Begierden mit allem Hass zu Werke, bis die Vernunft schließlich selbst müde wirde, freiwillig weicht und sich gefangen gibt. Erasmus von Rotterdam fragt: „Wo bloß sollen wir die Wahrheit herhaben ohne die Torheit und die von ihren Gnaden gesegneten Toren? Das Vorrecht der Einfalt und Wahrhaftigkeit ist seiner Meinung nach doch ebenfalls ein beachtlicher Vorzug der Toren. Die bei Platon überlieferte sprichwörtliche Äußerung des Alkibiades nicht die Wahrheit und den Wein für die Jugend in Anspruch.

Trotzdem kommt das ganze Lob zuletzt der Torheit zu, was Euripides bezeugt, von dem das berühmte Wort stammt, dass ein Tor allein offen redet. Erasmus von Rotterdam schreibt: „Was ein blöder Mensch innerlich fühlt, kündet sein Gesicht an, und er trägt das Herz auf der Zunge. Die Weisen dagegen sind doppelzüngig, woran der gleiche Euripides erinnert.“ Mit der einen Zunge verkünden sie die Wahrheit, mit der anderen den Zeitgeschmack. Es ist ihre Art, weiß zu malen, was schwarz ist, und in einem Atemzug kalt und warm zu erscheinen. Quelle: „Handbuch der Menschenkenntnis“ von Georg Brunold (Hrsg.)

Von Hans Klumbies