Die wahre Liebe wird immer geachtet werden

Das Studium, das dem Menschen angemessen ist, ist das seiner Beziehungen. Solange er sich nur als körperliches Wesen kennt, muss er sich im Hinblick auf seine Beziehungen zu den Dingen studieren: das ist die Beschäftigung seiner Kindheit; fängt er an, sich als geistiges Wesen zu fühlen, muss er sich im Hinblick auf seine Beziehungen zu den Menschen studieren: das ist die Beschäftigung seines ganzen Lebens. Jean-Jacques Rousseau schreibt: „Sobald der Mann eine Gefährtin braucht, ist er kein isoliertes Wesen mehr, sein Herz ist nicht mehr allein. Alle seine Beziehungen zu seiner Gattung, alle Zärtlichkeit seiner Seele werden mit jener geboren. Seine erste Leidenschaft wird bald die anderen in Wallung bringen.“ Die Neigung des Instinkts dagegen bezieht sich auf kein bestimmtes Objekt.

Liebesfähigkeit benötigt Zeit und Erkenntnisse

Ein Geschlecht wird vom andern angezogen – das ist der Trieb der Natur. Die Wahl, die Vorlieben, die persönliche Anhänglichkeit und das Werk von Einsicht, Vorurteil und Gewohnheit; es braucht Zeit und Erkenntnisse, um liebesfähig zu werden: man liebt nicht, bevor man geurteilt hat, man zieht nicht vor, ehe man verglichen hat. Diese Urteile bilden sich, ohne dass man es merkt, sind deshalb aber nicht weniger real. Die wirkliche Liebe, was man darüber auch sagen möge, wird von den Menschen immer geachtet werden.

Und dies trotz ihrer Aufwallungen, die schon manchen Menschen auf Irrwege geleitet hat, und obwohl sie in dem Herzen, das sie fühlt, abstoßende Eigenschaften nicht ausschließt und sogar erzeugt, setzt die wirkliche Liebe doch immer auch achtenswerte Eigenschaften voraus, ohne die man unfähig wäre, Liebe überhaupt zu empfinden. Jean-Jacques Rousseau fügt hinzu: „Die Auswahl, die man der Vernunft zuwider trifft, kommt uns von ihr. Man spricht von blinder Liebe, weil sie bessere Augen hat als wir und Beziehungen sieht, die wir nicht bemerken können.“

Liebe muss gegenseitig sein

Für jemanden, der weder von Verdienst noch von Schönheit die geringste Vorstellung hätte, wäre jede Frau gleich gut, und die erste wäre immer die Liebenswerteste. Jean-Jacques Rousseau erläutert: „Die Liebe kommt bei weitem nicht aus der Natur, sie ist vielmehr Regel und Zügel ihrer Neigungen; durch sie allein kommt es, dass, außer dem geliebten Gegenstand, das eine Geschlecht dem anderen nichts bedeutet.“ Gibt man jemanden vor den andern den Vorzug, so will man auch von ihm bevorzugt werden; Liebe muss gegenseitig sein.

Um geliebt zu werden, muss man Liebenswürdigkeit besitzen; um vorgezogen zu werden, muss man liebenswerter sein als jeglicher andere, zumindest in den Augen des geliebten Menschen. Daher beginnt man die Mitmenschen zu betrachten, sich mit ihnen zu vergleichen; so entstehen Wetteifer, Rivalität und Eifersucht. Wer fühlt, wie süß es ist, geliebt zu werden, möchte gleich von aller Welt geliebt werden, und da jeder bevorzugt werden möchte, muss es viele Unzufriedene geben. Mit Liebe und Freundschaft zugleich entstehen Entzweiungen, Feindseligkeit und Hass. Quelle: „Emile oder über die Erziehung“ von Jean-Jacques Rousseau in „Was ist Liebe?“ aus dem Reclam Verlag

Von Hans Klumbies