Auch die Guten lügen

Zeitgenossenschaft bedeutet, sich tastend dem anzunähern, was die Zeit, in der man lebt, ausmachen könnte. Konrad Paul Liessmann unternimmt in seinem Buch „Lauter Lügen“ mit seinen Texten solche Annäherungsversuche. Bei dieser Aufgabe, von markanten Vorkommnissen auf den Geist der Zeit zu schließen oder in manchen Nachrichten die Signaturen der Epoche zu erkennen, bewegt man sich stets auf schwankendem Boden und dünnem Eis. Es gibt nicht wenige Menschen, die die Gegenwart als postfaktisches Zeitalter bezeichnen. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Das ist jedoch nicht verwunderlich, denn in der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um Machtfragen. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

Sprache war schon immer eine Verfälschung der Wirklichkeit

Auch die Guten lügen. Wer hätte das gedacht! Sie lügen vor allem dann, wenn sich die Wirklichkeit den Ideen des Guten zu widersetzen scheint. Sprache an sich, und dies war eine unüberbietbare Einsicht des jungen Friedrich Nietzsche, stellt immer schon eine Verfälschung der Wirklichkeit dar. Jedes Wort ist eine Verkürzung, jeder Satz eine Deutung, jedes sprachliche Bild eine poetische Fiktion, jede Beschreibung bestenfalls eine Annäherung, wenn nicht eine glatte Erfindung.

Viel ist in letzter Zeit vom Hass im Netz die Rede. Für die Verfasser von Hasspostings hat sich ein neuer Anglizismus eingebürgert: Hater. Er ist die erste Erscheinungsform des Negativen und Bösen in den sozialen Medien, die sich hier durchaus als asozial erweisen. Dass sich Aggression und Hass in seinen übelsten Formen im Internet so rasch und so flächendenkend bemerkbar machen könnten, überstieg selbst die Befürchtungen der Netzskeptiker. Drohend zeichnet sich nur für Besorgte gar eine neue Herrschaft des Pöbels ab.

Scheinbar unumstößliche Gewissheiten lösen sich auf

Im letzten Abschnitt seines Buches „Lauter Lügen“ beschreibt Konrad Paul Liessmann den Wandel der Werte. Denn heutzutage ist ständig von Werten die Rede. Dabei wird gerne vergessen, dass der Begriff des Werts erst im 19. Jahrhundert aus der Ökonomie in der Moralphilosophie importiert worden sind. Thomas Hobbes schriebt: „Die Geltung oder Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis.“ Dieser Preis richtet sich danach, wie viel man für die Benützung der Fähigkeiten eines Menschen bereit wäre zu zahlen.

Seit Russland seinen Angriffskrieg in der Ukraine führt, lösen sich Gewissheiten auf, die vorher als unumstößlich galten. Und das passiert, ohne große Diskussionen darüber zu führen. Konrad Paul Liessmann schreibt: „Mitunter hat man den Eindruck, dass mit Erleichterung, ja Euphorie wieder von Tugenden gesprochen wird, die lange verpönt waren: Mut, Tapferkeit, Durchhaltevermögen, Opferbereitschaft, Nationalstolz.“ Und manch alter kalter Krieger sonnt sich im wohligen Gefühl, es immer schon gewusst zu haben.

Lauter Lügen
Konrad Paul Liessmann
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 253 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-552-07342-5, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies