Herkömmlicherweise erklärt man die kulturellen Bestrebungen der Menschen unter dem Gesichtspunkt des außergewöhnlichen menschlichen Intellekts. Dabei hält man die Gefühle kaum einer Erwähnung wert. Antonio Damasio stellt fest: „Die Stars der kulturellen Entwicklung sind vielmehr die Expansion von menschlicher Intelligenz und Sprache sowie das ungewöhnliche Ausmaß an Geselligkeit.“ Auf den ersten Blick gibt es gute Gründe dafür, eine solche Erklärung für plausibel zu halten. Die Kulturen der Menschen zu erklären, ohne dabei die Intelligenz zu würdigen, die sich hinter den neuartigen Mitteln und Vorgehensweise namens Kultur verbirgt, ist undenkbar. Dass die Beiträge der Sprache für die Entwicklung und Weitergabe von Kulturen entscheidend sind, muss nicht eigens betont werden. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.
Die Kreativität ist in das komplexe Gebäude der Affekte eingebettet
Und was die Geselligkeit angeht, so wurde ihr Beitrag häufig übersehen, aber heute tritt ihre unverzichtbare Rolle deutlich zutage. Kulturelle Praktiken hängen von sozialen Phänomenen ab, für die erwachsene Menschen hervorragend geeignet sind – beispielsweise wenn zwei Personen gemeinsam über das gleiche Thema nachdenken und entsprechend gemeinsame Absichten verfolgen. Und doch scheint es, als ob in der Beschreibung, in der nur der Intellekt vorkommt, irgendetwas fehlt.
Man könnte meinen, dass kreative Intelligenz habe sich ohne eine effektiven Antrieb verwirklicht und sei vorangeschritten, ohne dass im Hintergrund ein anderes Motiv als die reine Vernunft gestanden hätte. Das Überleben als Motiv zu nennen reicht nicht, denn damit sagt man nichts darüber aus, warum das Überleben überhaupt ein Anliegen sein sollte. Es ist, als wäre die Kreativität nicht in das komplexe Gebäude der Affekte eingebettet. Als wäre die Fortentwicklung und Betrachtung der Prozesse kultureller Erfindungen allein mit kognitiven Mitteln möglich gewesen – ohne dass dabei der tatsächliche, gefühlte Wert guter oder schlechter Folgen im Leben ein Rolle gespielt hätte.
Affekte liegen hinter vielen Aspekten des sozialen Lebens verborgen
Antonio Damasio erläutert: „Gefühle und – allgemeiner gesagt – Affekte jeder Art und Intensität sind die stillen Teilnehmer am Konferenztisch der Kultur.“ Als Menschen erstmals die goldene Regel formulierten, wonach man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte, taten sie dies vor dem Hintergrund dessen, was sie fühlten, wenn sie selbst oder andere schlecht behandelt wurden. Natürlich spielte dabei eine faktenbasierte Logik eine wichtige Rolle, aber entscheidend waren die Gefühle.
Leiden oder Gedeihen, die beiden äußersten Enden des Spektrums, waren die wichtigste Motivation für die kreative Intelligenz, aus der die Kultur erwuchs. Die gleiche Wirkung hat aber auch das Erlebnis von Affekten, die mit grundlegenden Wünschen – Hunger, Lust, soziale Gemeinschaft – zu tun haben, oder auch mit Angst, Wut, dem Streben nach Macht und Ansehen, Hass, dem Trieb, Gegner und alles, was sie besessen oder gesammelt haben, zu zerstören. Tatsächlich liegen Affekte hinter vielen Aspekten des sozialen Lebens verborgen. Quelle: „Im Anfang war das Gefühl“ von Antonio Damasio
Von Hans Klumbies